"Odyssee einer Urkunde. Die Paulskirchenverfassung vom 28. März 1849"

Typ: Rede , Datum: 18.03.2024

Grußwort von Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser

  • Ort

    Paulskirche Frankfurt am Main

  • Rednerin oder Redner

    Bundesinnenministerin Nancy Faeser

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Prof. Christian Jansen,
lieber Herr Oberbürgermeister Mike Josef,
sehr geehrte Frau Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau,
sehr geehrte Bundestagsabgeordnete,
liebe Stadtverordnete der Stadt Frankfurt,
sehr geehrte Frau Christine Hohmann-Dennhardt,
meine sehr geehrten Damen und Herren, 

die Geschichte der Paulskirche und ihres Verfassungsentwurfs lädt zum Spekulieren ein: Sähe das Grundgesetz ohne seine demokratischen Vordenker genauso aus?

Würdigen wir den Einfluss genug, den die Paulskirchenversammlung und ihre Verfassung auf die demokratische Geschichte unseres Landes hatten? Heute können wir antworten: Die Ausstellung, die wir jetzt eröffnen, leistet einen wichtigen Beitrag dazu, dass die Paulskirchenverfassung die Aufmerksamkeit erhält, die ihr gebührt.
Es freut mich deshalb sehr, hier und heute das historische Dokument der ersten deutschlandweiten Versammlung frei gewählter Abgeordneter zu ehren:

Die Paulskirchenverfassung selbst. Dass wir das Original noch betrachten können, erscheint angesichts der – man kann es kaum treffender sagen – Odyssee, die das Dokument schon hinter sich hat, wie ein Wunder.

Heute kehrt sie erstmals seit 175 Jahren zurück nach Frankfurt. Dank der intensiven Bemühungen der "Gesellschaft zur Erforschung der Demokratiegeschichte", des "Deutschen Historischen Museums"! und des "Historischen Museums Frankfurt". Im Namen der Bundesregierung danke ich Ihnen sehr für Ihre Arbeit.

In der Tat: Das Original der Paulskirchenverfassung ist ein besonderes Dokument, und auch diese Ausstellung ist eine besondere. Es gelingt ihr, Geschichte lebendig zu machen.

Das ist bei einem juristischen Dokument wie einer Verfassung gar nicht so leicht. Die Ausstellung arbeitet mit Anekdoten und nähert sich ihrem Gegenstand unkonventionell:

Wussten Sie zum Beispiel, dass der aus edelsten Materialien gefertigte Einband der Verfassungsurkunde schon erste Bezüge zum Vergaberecht aufweist? Das wird in einer Anekdote über den ersten Schriftführer der Paulskirchenversammlung, Friedrich Juchow, verdeutlicht. Der wollte nämlich erst ein paar Fragen beantwortet haben, ob zum Beispiel der Preis vertraglich festgelegt worden sei, bevor er die Rechnung für den Einband begleichen würde. 

Auf fast jeder Ausstellungstafel ist eine kleine Anekdote zu finden. Durch diese Annährung wird, wie ich finde, sehr charmant vermittelt, dass die Paulskirchenverfassung in vielen Artikeln deutliche Kontinuitäten mit der Weimarer Reichsverfassung und auch dem Grundgesetz aufzeigt. Es geht um einen modernen Bundesstaat.

Und: um umfassende Grundrechte, geschützt durch ein unabhängiges Reichsgericht.

All das sind Parallelen, die nahelegen, im Grundgesetz die Enkelin der Paulskirchenverfassung zu erkennen.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, 

in der Ahnenreihe deutscher Verfassungen blicken wir in diesem Jubiläumsjahr 2024 gleich auf drei besondere Jahre zurück, die unsere Demokratiegeschichte geprägt haben: 1849, 1919 und 1949.

Mein Haus, das Bundesinnenministerium, ist Verfassungsressort. Es trägt – gemeinsam mit dem Bundesministerium der Justiz – besondere Verantwortung dafür, dass Regierung und Verwaltung das Grundgesetz beachten und umsetzen. Man könnte auch sagen:

Unser Grundgesetz, die Enkelin der Paulskirchenverfassung, steht unter meinem besonderen Schutz.

Deshalb freut es mich, dass mein Haus zum dreifachen Verfassungsjubiläum diese einzigartige Ausstellung finanziell fördern kann – und es ihr damit ermöglicht, durch Deutschland zu wandern. Sie wird "auf der Durchreise" im Sommer auch bei uns im Ministerium zu sehen sein. Darauf freue ich mich besonders.

Bundesministerin Faeser gemeinsam mit Vizepräsidentin des Deutschen Bundestages Petra Pau schauen sich die Urkunde an. Quelle: Bundesfoto Rumpenhorst

 
Meine sehr geehrten Damen und Herren, 

oft hört man, die Paulskirchenverfassung stehe sinnbildlich für die wechselhafte deutsche Demokratiegeschichte – mit all ihren Aufbrüchen und Rückschlägen. Wie also steht es um die deutsche Demokratie heute?

75 Jahre nach Inkrafttreten des Grundgesetzes ist unsere Demokratie gefestigt, auch wenn sie damals nicht vom deutschen Volk selbst erstritten wurde.

Unsere Verfassungsordnung hat wichtige Lehren aus der Vergangenheit gezogen:

Dem gescheiterten Aufbruch der Paulskirche, dem Sturz der Weimarer Republik durch die Nationalsozialisten – mit verheerenden Folgen der NS-Tyrannei, der Shoa.

Das Grundgesetz ist eine freiheitliche Verfassung, die den Menschen in den Mittelpunkt stellt, seine Würde, seine Rechte, die universelle Gleichheit aller vor dem Gesetz.

Letztes Jahr bei der Eröffnung des Paulskirchenfestes habe ich gesagt: Die Demokratie ist nichts Selbstverständliches. Vielen erscheint sie heute als die einzig mögliche Staatsform. Doch Demokratien leben vom Mitmachen, vom Mitentscheiden und sich Einmischen. Überlässt man das nur anderen, so überlässt man jenen das Feld, die die Mittel der Demokratie zwar nutzen mögen, ansonsten aber ganz anderes im Schilde führen. Umso wichtiger ist deshalb die Botschaft an alle, denen etwas am Deutschland des Grundgesetzes liegt: Wir alle müssen für unsere Demokratie einstehen und sie Tag für Tag schützen, stärken, aber auch verteidigen.

Das gilt heute unverändert, vielleicht mehr denn je. Denn unsere Demokratie ist aktuell so bedroht wie schon lange nicht mehr. 

Ihre Feinde arbeiten mit Lügen, Hass und Hetze – auch alte, unsägliche Stereotype gehören zu ihren Mitteln.

Das zeigt sich nicht zuletzt daran, dass antisemitische Anfeindungen, von Beleidigungen und Drohungen bis zu Gewalttaten, massiv angestiegen sind.

Der Kampf gegen Antisemitismus ist mir besonders wichtig. Ich will daher eine konkrete Debatte der Paulskirchen-versammlung zu diesem Thema aufgreifen:

Im August 1848 stellte der Abgeordnete Moritz Mohl den Antrag, Juden in der zukünftigen Verfassung das Recht auf Gleichheit vor dem Gesetz abzusprechen. Nach einer fulminanten Gegenrede des Hamburger Juristen Gabriel Riesser lehnte die Versammlung diesen Antrag ab. Am Ende stand ein bahnbrechendes Ergebnis: Die Paulskirchenverfassung garantierte erstmalig Religionsfreiheit und die Gleichheit aller vor dem Gesetz.

In seiner Gegenrede, die sich direkt an Mohl wendet, formulierte Riesser einen Satz, der mich tief beeindruckt hat und den ich gern zitieren möchte: "Glauben Sie nicht, dass sich Ausnahmegesetze machen lassen, ohne, dass das ganze System der Freiheit einen verderblichen Riss erhalten, ohne, dass der Keim des Verderbens in dasselbe gelegt würde."

Dieser Satz gilt grundsätzlich: Wenn wir uns dazu verleiten lassen, einzelne Gruppen auszugrenzen und ihnen fundamentale Rechte abzusprechen, bringen wir die Rechte aller in Gefahr. Wenn wir uns als Demokraten dazu hinreißen lassen, Teile der Gesellschaft abzuwerten, um daraus kurzfristig politischen Profit zu schlagen, gefährden wir immer auch die Demokratie als Ganzes. Die Einheit der Demokratien ist deshalb keine hohle Phrase, sie ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir unsere offene Gesellschaft gegen ihre Feinde verteidigen können.
Das bringt mich zurück zur besonderen Konzeption dieser Ausstellung. Denn sie zeigt auch:

Historische Artefakte lassen sich für unterschiedlichste Anschauungen nutzen. Der Nationalsozialismus schmückte sich ebenso mit der Paulskirchenverfassung wie die DDR. Die abweichenden Lesarten in den verschiedenen politischen Systemen zeigen: Fast jedes Dokument kann als Projektionsfläche für die eigenen Interessen dienen. Damit will ich sagen: Ein Dokument alleine genügt nicht, es kommt darauf an, was die Menschen ihrer Zeit daraus machen und ob sie hinter den demokratischen Werten stehen und sie verteidigen.

Diese Ausstellung hilft uns, heute Historisches einzuordnen, zu verstehen, zu übersetzen. Sie ist ein wunderbarer Beitrag zur demokratischen Geschichtsbildung. Und in diesem Sinne übergebe ich abschließend gerne an die Köpfe hinter ihrer Konzeption – Dr. Hilmar Sack und Dr. Klaus Seidl.

Vielen Dank!