Gedenkstunde der Bundesregierung für die Opfer von Flucht und Vertreibung
Rede 20.06.2023
Begrüßungsrede der Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser
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Ort
Konzerthaus am Gendarmenmarkt Berlin
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Rednerin oder Redner
Bundesinnenministerin Nancy Faeser
Es gilt das gesprochene Wort.
Exzellenzen,
sehr geehrte Frau Kollegin Stark-Watzinger
sehr geehrte Mitglieder des Deutschen Bundestages
sehr geehrte Frau Hoffmann,
sehr geehrter Herr Ramadan,
sehr geehrter Herr Dr. Fabritius,
sehr geehrte Damen und Herren,
diese Gedenkstunde hat einen doppelten Anlass. Denn den Gedenktag für die Opfer von Flucht und Vertreibung begehen wir jedes Jahr am Weltflüchtlingstag.
Wir müssen beides zusammendenken. Gerade angesichts der aktuellen Weltlage. Beides zusammendenken – das heißt auch, Gemeinsamkeiten in den Blick zu nehmen: Das, was die Fluchterfahrung der Heimatvertriebenen mit den Menschen verbindet, die heute bei uns Schutz und Zuflucht suchen.
In diesem Jahr ist es 90 Jahre her, dass die erste deutsche Demokratie tragisch an sich selbst scheiterte. Adolf Hitler und die Nationalsozialisten kamen an die Macht. Es folgten zwölf Jahre Terror in Europa –Rassenwahn, Völkermord, Schoa. Und der von Deutschland entfesselte Zweite Weltkrieg.
Er hinterließ ein Europa in Trümmern. Und mehr als zehn Millionen Deutsche aus den ehemaligen Ostgebieten, die auf der Flucht oder aus ihrer Heimat vertrieben waren.
In die heutige Bundesrepublik kamen sie meist bettelarm, zerlumpt, in schlechter Verfassung. Und sie wurden nicht mit offenen Armen empfangen.
Weil die herrschende Not der Nährboden für Neid war. Aber auch weil unterschiedliche – deutsche – Kulturen aufeinanderprallten. Selbst wenn wir uns das heute kaum vorstellen können:
Wo evangelische Schlesier auf katholische Oberbayern trafen, war das Konfliktpotential damals massiv. Hinzu kamen die – ebenfalls massiven – Vorurteile, denen sich auch die Heimatvertriebenen in dieser Zeit ausgesetzt sahen.
Es war harte Arbeit, dieser Vorurteile zu überwinden. Dass es trotzdem gelungen ist, war zu großen Teilen ein Verdienst der Heimatvertriebenen selbst. Sie haben sich der Herausforderung gestellt, ihren Platz in der deutschen Nachkriegsgesellschaft zu finden. Mit Erfolg. Und sie haben dadurch zu einer Alltagskultur beigetragen, die sich offener für Neuankömmlinge zeigt.
In einem fremden Land Fuß zu fassen, war und ist schwierig. Zwar stoßen Geflüchtete im modernen Deutschland auch auf Menschen, die ihnen mit Offenheit, Solidarität und Hilfsbereitschaft begegnen. Aber ganz aktuell spüren wir zugleich, wie manche versuchen, aus der Angst vor Zuwanderung politischen Profit zu schlagen. Wie leicht Vorurteile, Sozialneid und Hass mobilisierbar sind. Es sind herausfordernde Zeiten. Auch wenn Deutschland heute eine stabile und wehrhafte Demokratie ist. Und ein modernes Einwanderungsland. Die Bundesrepublik bietet Menschen aus 190 Nationen eine Heimat. Wir müssen dafür sorgen, dass sie für alle eine sichere Heimat ist.
Meine Damen und Herren,
So unterschiedlich die jeweiligen Schicksale damals und heute waren, so universell ist die Erfahrung des Heimatverlusts und der damit verbundenen Unsicherheit. Viele Geflüchtete werden durch ihre Erlebnisse schwer traumatisiert. Viele leiden lebenslang unter den Folgen.
Trotzdem bauen sie sich, wenn sie die Chance dazu bekommen, am Ankunftsort ein neues Leben auf. Sie lernen eine neue Sprache.
Sie lassen ihre Kinder in einer neuen, nicht vertrauten Umgebung aufwachsen. Sie werden unsere Nachbarn, Kolleginnen und Freunde. Vor der Kraft dieser Menschen habe ich großen Respekt.
Die Zahl der gewaltsam vertriebenen Menschen weltweit beträgt (laut UNHCR) aktuell über 108 Millionen. Noch nie mussten so viele Männer, Frauen und Kinder weltweit vor Krieg, Konflikten und Verfolgung fliehen wie heute. Dazu trägt vor allem der russische Angriffskrieg auf die Ukraine bei. Dieser Krieg hat die größte Fluchtbewegung seit dem Zweiten Weltkrieg ausgelöst.
Allein im vergangenen Jahr haben eine Million Menschen aus der Ukraine bei uns Schutz gesucht vor Putins Bomben.
Und sie wurden hier in Deutschland mit offenen Armen empfangen. Unzählige Freiwillige haben Soforthilfe geleistet, gespendet.
Zehntausende Deutsche haben den Menschen aus der Ukraine ihre Türen geöffnet und sie bei sich aufgenommen. Sie haben geholfen bei Behördengängen, in der Schule oder bei der Suche nach einem Kitaplatz.
Schon 2015 hat mich die Hilfsbereitschaft unserer Bevölkerung tief beeindruckt.
Damals waren es Menschen, die vor dem Krieg in Syrien zu uns flohen. Und schon damals hat sich gezeigt, dass unser Land sich gewandelt hat. Auch wenn nicht alle aus den historischen Fehlern und Irrwegen, aus dem Leid und den Neuanfängen unseres Landes gelernt haben:
Wir sind heute eine Gesellschaft, die Menschenrechte achtet. Wir sind heute eine Gesellschaft, deren Mitglieder sich mit bewundernswertem Einsatz ehrenamtlich für ihre Mitmenschen stark machen.
All diese Menschen sind das Rückgrat unserer offenen Gesellschaft und unserer freiheitlichen Demokratie. Ihnen allen gebührt großer Dank und Respekt.
Meine Damen und Herren,
die Geschichte von Flucht und Vertreibung ist auch in Europa leider nicht vorbei.
Und wir müssen weiter lernen. Gerade wenn es darum geht, einander zu verstehen.
Wenn wir zusammenleben, zusammenwachsen und zusammenhalten wollen, gehört dazu auch, dass wir einander zuhören.
Deshalb war es mir wichtig, dass im Vorfeld dieser Gedenkstunde ein besonderer Austausch stattfinden konnte. Ein Gespräch mit Schülerinnen und Schülern der Robert-Jungk-Oberschule aus Berlin-Wilmersdorf. Ihre Gesprächspartner waren Frau Eva-Maria Bette, die als Heimatvertriebene aus Pommern fliehen musste, und Herr Mohammad Ali Mosavi, der 2015 als Schutzsuchender aus Afghanistan nach Deutschland kam. Herzlichen Dank Ihnen allen.
In solchen Gesprächen wächst lebendige Erinnerungskultur. Sie bauen Brücken zwischen gestern, heute und morgen.
Leider schwindet die Zahl derjenigen, die uns aus eigenem Erleben über Flucht und Vertreibung im Zuge des Zweiten Weltkriegs und der Schoa berichten können.
Umso wichtiger wird es, ihre Erfahrungen weiterzutragen, darüber miteinander zu sprechen und ihnen zuzuhören.
Auch das hat etwas mit Heimat zu tun. Denn zugehörig sind wir, wenn unsere Geschichte gehört wird. Und jede Lebensgeschichte verdient es, gehört zu werden. Gerade wenn es Geschichten von Entwurzelung, Exodus und Exil sind.
In Deutschland haben Krieg und Nationalsozialismus unzählige solcher Geschichten geschrieben. Flucht und Vertreibung sind Teil unserer Geschichte und unserer Gegenwart. Sie sind universelle menschliche Erfahrungen.
Diesen Gedanken machen heute drei Menschen gegenwärtig, deren Lebensgeschichten von Flucht und Vertreibung erzählen:
Frau Hoffmann, Herr Kadymian, Herr Ramadan, ich danke auch Ihnen sehr herzlich. Für Ihre Texte, Ihre Musik und Ihren Erfahrungsbericht, die wir im Anschluss hören.
Ihre Beiträge machen den Verlust der Heimat und den Schmerz des Neuankommens greifbar. Auch wenn das wohl nur begreifen kann, wer es selbst erlebt hat.
Meine Damen und Herren,
wir gedenken heute der Opfer von Flucht und Vertreibung. Wir würdigen ihre Erfahrungen.
Wir erinnern an ihr Leid. Wir erinnern an Ihre Leistungen – nicht zuletzt für unser Land. Und wir wünschen allen, die in der heutigen Zeit gezwungen sind, ihre Heimat aufzugeben, ein gutes und baldiges Ankommen in Sicherheit.
Und allen, die ihnen helfen und geholfen haben, von ganzem Herzen Dank!