Verleihung des Ehrenamtspreises für jüdisches Leben in Deutschland

Typ: Rede , Datum: 14.11.2022

Rede der Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser

  • Ort

    Max-Liebermann-Haus, Berlin

  • Rednerin oder Redner

    Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser

Es gilt das gesprochene Wort.

Sehr geehrter Herr Dr. Schuster,

sehr geehrter Herr Dr. Klein,

sehr geehrte Abgeordnete,

sehr geehrte Damen und Herren,

und vor allem: sehr geehrte Preisträgerinnen und Preisträger!

Ich freue mich sehr, Sie im Max-Liebermann-Haus, in den schönen Räumen der Berliner Sparkasse, zur Verleihung des Ehrenamtspreises für jüdisches Leben begrüßen zu können.

Hier am Pariser Platz Nr. 7 ist Geschichte zum Greifen nah. Und das Leben des Malers Max Liebermann und seiner Frau Martha führen uns vor Augen, wie sehr Jüdinnen und Juden die Geschichte unseres Landes mitgestaltet haben. 

Gerade am Schicksal Martha Liebermanns, die sich am Tag vor ihrer Deportation das Leben nahm, sehen wir aber auch, für welch schreckliches Leid Deutschland die unteilbare Verantwortung trägt. Denn genauso greifbar ist an diesem Ort der Zivilisationsbruch, der in das Menschheitsverbrechen der Shoa münden sollte.

Für den Pariser Platz folgten Trümmerfeld, Teilung und Mauer. Heute ist die Mitte Berlins geheilt, aber ihre Narben bleiben sichtbar. Und das soll auch so bleiben. Auch das Max-Liebermann-Haus wurde nach seiner Zerstörung im Jahr 1943 nicht wieder originalgetreu aufgebaut, sondern einer „kritischen Rekonstruktion“ unterzogen.

Das ist ein ganz plastisches Beispiel dafür, dass die Gegenwart von ihrer Geschichte nicht zu trennen ist. Sie ist kein zufälliges Produkt, sondern geht auf Entscheidungen zurück, die in Politik und Gesellschaft getroffen werden.

Als Politikerin und als Bundesinnenministerin bin ich davon überzeugt, dass jede unserer Entscheidungen zählt. Und dass wir alle mit unseren Entscheidungen aktiv zum Gelingen unseres gesellschaftlichen Zusammenlebens beitragen können.

Dass Jüdinnen und Juden sich dafür entschieden haben, jüdisches Leben in Deutschland wiederaufzubauen, ist für unsere Gesellschaft ein großes Glück. Denn sie haben aktiv am Aufbau einer demokratischen und freiheitlichen Bundesrepublik Deutschland mitgewirkt.

Wir können gemeinsam auf diese Leistung stolz sein – gemeinsam als Juden und Nicht-Juden, gemeinsam als alle Bürgerinnen und Bürger, die eine Entscheidung für Demokratie, Freiheit und Menschenrechte getroffen haben und jeden Tag aufs Neue treffen.

Jüdisches Leben in Deutschland ist aber kein Gradmesser für den Erfolg oder Misserfolg der Aufarbeitung deutscher Geschichte. Jüdinnen und Juden sind nicht die Beichtväter und  mütter der Nation, die den Nachfahren der Täter die Absolution erteilen können. Das wäre eine unzumutbare und anmaßende Instrumentalisierung.

Es ist stattdessen die Verantwortung jedes und jeder Einzelnen von uns, die Erinnerung an die Shoa wachzuhalten und aktiv dafür Verantwortung zu übernehmen, dass „Nie wieder!“ keine leere Phrase bleibt, sondern Handeln nach sich zieht!

Die Sicherheit von Jüdinnen und Juden und der Schutz jüdischen Lebens ist nicht nur untrennbar mit unserer Geschichte verbunden. Sie ist eine Aufgabe, die für das Selbstverständnis unseres Staates elementar ist, denn ohne Jüdinnen und Juden wäre Deutschland nicht das Land, das es ist.

Meine Damen und Herren,

Jüdinnen und Juden sollen sich in Deutschland sicher fühlen und sie sollen sicher sein.

Leider ist der Antisemitismus weder 1945 verschwunden, noch ist er – wie manche behaupten – erst durch Zuwanderung wieder nach Deutschland gekommen. Nein, er war immer da. Und zwar nicht nur an den Rändern, sondern überall, auch und gerade mitten in unserer Gesellschaft.

Es ist nicht lange her, dass hier am Brandenburger Tor Reichsflaggen geschwenkt wurden. Hier verglichen sich Gegner der Corona-Maßnahmen mit den Opfern der nationalsozialistischen Judenverfolgung und machten Jüdinnen und Juden für die Pandemie verantwortlich.

Solche Vergleiche sind erschütternd und sie sind absolut inakzeptabel. Als Bürgerinnen und Bürger einer wehrhaften Demokratie dürfen wir sie nicht hinnehmen – und wir nehmen sie nicht hin!

Es ist kein Anlass zur Beruhigung, dass Antisemitismus mehrheitlich auf Ablehnung stößt. Denn auch, wenn offener Judenhass gesellschaftlich geächtet ist, sind latente antisemitische Ressentiments nach wie vor weit verbreitet: Laut einer aktuellen Studie der Bertelsmann-Stiftung denkt jeder Vierte in Deutschland, Juden hätten „in der Welt zu viel Einfluss“. Knapp die Hälfte möchte einen „Schlussstrich“ unter die NS-Vergangenheit ziehen.

Auch die Zahl antisemitischer Straftaten bewegt sich leider auf einem viel zu hohen Niveau. Jeden Tag werden durchschnittlich fünf antisemitische Straftaten verübt. Ich schäme mich dafür, dass in unserem Land jüdische Kitas und Schulen polizeilich geschützt werden müssen. Was muss das als Mutter oder Vater für ein Gefühl sein?

Der brutale Anschlag auf die Synagoge in Halle an Yom Kippur vor drei Jahren war gemeinsam mit den Anschlägen von München und Hanau und dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke ein schrecklicher Höhepunkt des Rechtsterrorismus in Deutschland. Auch wenn der Täter von Halle allein gehandelt hat, sind seine Ideen in einem Umfeld entstanden, das von Hass auf Juden und Andersdenkende geprägt ist.

Ich habe die Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Feinde unserer Demokratie deshalb ganz bewusst zu einem Schwerpunkt meiner Arbeit gemacht. Mein Aktionsplan gegen Rechtsextremismus sieht viele Maßnahmen vor, mit denen wir künftig noch härter durchgreifen: Mit Vereinsverboten, einer Verschärfung des Waffenrechts und einem konsequenten Vorgehen gegen Desinformation und Extremismus im Internet. Wir werden außerdem Verfassungsfeinde schneller aus dem öffentlichen Dienst entfernen als bisher.

Auch die Präventionsmaßnahmen verbessern wir: Wir stärken die politische Bildung insbesondere im Umgang mit Verschwörungsideologien, und wir fördern eine demokratische Streitkultur. Außerdem schaffen wir mehr Angebote zum Ausstieg aus extremistischen Verschwörungs-ideologien. Das folgt meiner tiefen Überzeugung, dass diese Demokratie wehrhaft sein muss und wir die offene Gesellschaft mit aller Kraft gegen ihre Feinde verteidigen müssen. Und das Tag für Tag.

Demokratie ist keine Selbstverständ-lichkeit. Sie muss aktiv erkämpft werden!

Die Bekämpfung von Antisemitismus ist dafür zentral. Dabei spielt es keine Rolle, woher der Antisemitismus stammt, oder welche Geisteshaltung ihm zugrunde liegt: Antisemitismus ist niemals harmlos. Egal, ob er aus dem rechtsextremen, dem linksextremen oder dem islamistischen Milieu stammt, ob er an einem Stammtisch oder in einer Moschee verbreitet wird, ob es um israelfeindlichen Antisemitismus oder um wirre Verschwörungsideologien geht.

Auch die „Nationale Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben“, die mein Haus mit Herr Dr. Klein und seinem Team derzeit erarbeitet, versteht Antisemitismus als Problem der gesamten Gesellschaft. Und das ist genau der richtige Ansatz. Die Strategie soll dazu befähigen, Antisemitismus auf jeder politischen und gesellschaftlichen Ebene entschlossen entgegenzutreten.

Es sind aber nicht nur antisemitische Straftaten, die mir Sorgen bereiten. Das Problem beginnt viel früher und es geht viel tiefer. Denn es sind nicht nur per se antisemitische Einstellungen, sondern auch ein bisweilen ziemlich unbeholfener Umgang mit jüdischen Themen, der in unserer Gesellschaft besteht.

Wie verkrampft der Umgang mit Jüdinnen und Juden mitunter ist, zeigt ein Eintrag des Dudens in diesem Jahr. Im Standardwerk der deutschen Sprache, stand, sogar mit einem Warnhinweis versehen, unter dem Begriff „Jude/Jüdin“:

„Gelegentlich wird die Bezeichnung Jude, Jüdin wegen der Erinnerung an den nationalsozialistischen Sprachgebrauch als diskriminierend empfunden.“

Das ist natürlich nicht böse gemeint. Aber dieser Eintrag sagt sehr viel über unnötige Verkomplizierungen aus. Wenn es schon zum Problem gemacht wird, „Jude“ zu sagen, macht das die Ausgangslage für Begegnungen sehr schwer. Es zeigt, dass auch in ganz grundlegenden Fragen und auch in der Mitte der Gesellschaft noch Gesprächsbedarf besteht.

Der Eintrag wurde dank der öffentlichen Kritik der Zivilgesellschaft mittlerweile geändert. Aber es wundert mich wirklich, dass jüdische Perspektiven hier nicht von Anfang an miteinbezogen wurden. Das muss in Zukunft anders werden!

Umso mehr möchte ich Sie und uns alle auffordern: Sprechen Sie „frei von der Leber“ weg und stehen Sie für eine Kultur des respektvollen Miteinanders ein. Lassen Sie uns Möglichkeiten der Begegnung unverkrampft nutzen! Denn, wie Martin Buber sagte: „Alles wirkliche Leben ist Begegnung.“

Bei einer echten Begegnung gibt es keine Scheu, die eigenen Wissens- und Erfahrungslücken zu benennen. Sie ist geprägt von gegenseitigem Zuhören, Respekt und dem Lernen voneinander.

Unser gesellschaftlicher Zusammenhalt lebt davon, dass wir Gemeinsamkeiten wie auch Unterschiede als normal begreifen. Oder anders gesagt: Vielfalt ist der Normalzustand einer Gesellschaft.

Meine Damen und Herren,

dass jüdische Stimmen heute stärker im öffentlichen Bewusstsein präsent sind, ist auch ein Verdienst des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland.“ Das Festjahr war vor allem deshalb ein so großer Erfolg, weil es auf jüdische Perspektiven gesetzt hat.

Im Podcast des Festjahres konnte man hören, wie vielfältig die Stimmen der jüdischen Gemeinschaft sind. Von großen, etablierte Institutionen dabei bis zu Jugendlichen mit ihren selbst entwickelten Projekten waren alle dabei. Es lohnt sich, zuzuhören!

Auch institutionell blüht das jüdische Leben in Deutschland weiter auf: Vor vier Jahren fand in Berlin die erste orthodoxe Rabbinerordination seit 1945 statt. Letztes Jahr wurde wieder ein deutsches Militärrabbinat eingesetzt. Säkulares jüdisches Leben ist in Deutschland ebenso selbstverständlich und verbreitet wie die Orthodoxie oder das liberale Judentum.

Das Festjahr war ein Impuls dafür, das jüdische Leben in Deutschland sichtbar und erlebbar zu machen. Und ich bin optimistisch, dass wir diesen Weg weitergehen werden!

Denn eine große Stärke unserer demokratischen Gesellschaft ist das ehrenamtliche Engagement. Durch dieses Engagement entstehen nicht nur

großartige und vielfältige Kultur-, Sport- und Freizeitangebote. Sondern das Ehrenamt schafft auch Gestaltungs- und Teilhabechancen – und es ist eine wesentliche Stütze für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Meine Damen und Herren,

ich sprach Anfangs kurz über unseren Veranstaltungsort und seinen Platz in der Geschichte unseres Landes. Einen Aspekt will ich noch hinzufügen: Das Max-Liebermann-Haus erinnert mit seiner bürgerlichen Gestalt auch an die Tradition des literarischen Salons. Eine wunderbare Tradition, wie ich finde.

In Berlin waren es meist Jüdinnen – wie Amalie Beer, Rahel Varnhagen von Ense und Henriette Herz – die den Salon zu seiner Blüte führten. Sie stehen für eine Zeit, in der jüdisches Leben in Deutschland für die breite Gesellschaft greifbar und alltäglich war.

Der Jüdische Salon am Grindel in Hamburg, der heute mit dem Ehrenamtspreis ausgezeichnet wird, stellt sich in diese Tradition und bezieht sie auf die Gegenwart. Mit den Veranstaltungen und Lesungen des Salons am Grindel, die sich der jüdischen Kunst, Literatur, Kultur und Religion widmen, öffnet er das Tor für Begegnungen.

Die Preisträger des Projektes „Jüdisches Halle – Gestern und Heute“ zeigen, dass Halle trotz des schrecklichen Anschlags eine offene und vielfältige Stadt ist. Mit ihrem interaktiven Stadtrundgang durch Geschichte und Gegenwart vermitteln sie nicht nur Wissen über jüdisches Leben in Halle, sondern schaffen auch viele fruchtbare Begegnungen zwischen Menschen, die aufeinander neugierig sind.

Die heutigen Preisträgerinnen und Preisträger sind herausragende Vorbilder des Engagements für unseren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Für Ihre wichtige Arbeit möchte ich Ihnen im Namen der gesamten Bundesregierung herzlich danken.

Ich gratuliere Ihnen zum Ehrenamtspreis für jüdisches Leben des Jahres 2022 und wünsche mir, dass Ihre Beispiele viele Nachahmer finden!