Erster Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt am 11.März 2022

Typ: Rede , Datum: 11.03.2022

Rede der Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser

  • Ort

    Kronprinzenpalais, Berlin

  • Rednerin oder Redner

    Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser

Es gilt das gesprochene Wort.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger!

Der Film, den wir gerade gesehen haben, erschüttert – welche Schrecken, welches Leid ruft diese terroristische Gewalt hervor! Die ausgewählten 15 Ereignisse stehen stellvertretend für eine Vielzahl von Gewalttaten.

Sie wurden begangen in Deutschland und im Ausland, von Tätergruppen und Einzeltätern, sie haben einen rechtsextremistischen, einen linksextremistischen, einen islamistischen, einen fremdenfeindlichen Hintergrund.

Allen ist gemeinsam: sie forderten Opfer – Todesopfer, Verletzte, Traumatisierte. Betroffene. Hinterbliebene. Von jetzt auf gleich veränderte sich alles.

Vor wenigen Wochen hat das Bundeskabinett beschlossen, den 11. März als Nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt zu begehen – wir begehen ihn heute zum ersten Mal.

Dazu begrüße ich Sie alle im Namen der Bundesregierung. Danke, dass Sie unsere Gedenkveranstaltung im Livestream oder im Fernsehen verfolgen.

Oder, dass Sie sich die Aufzeichnung später anschauen. Pandemiebedingt sind heute – zu meinem großen Bedauern – keine Gäste anwesend. Wir sind im Kronprinzenpalais in Berlin. Ich bedauere sehr, dass keine Betroffenen mitwirken können und hoffe, dass das im nächsten Jahr dann anders ist.

Ich freue mich jedoch, dass der Präsident des Bundesverfassungsgerichts heute die Hauptansprache halten wird. Herzlich Willkommen, Herrn Professor Stephan Harbarth! Auch begrüße ich sehr herzlich Herrn Pascal Kober. Er ist der Beauftragte der Bundesregierung für die Anliegen von Betroffenen von terroristischen und extremistischen Anschlägen im Inland. Ich begrüße Frau Professor Petra Terhoeven, Professorin für Zeitgeschichte in Göttingen. Sie beschäftigt sich mit der Situation der Opfer von terroristischer Gewalt.

Gemeinsam wollen wir an diesem Tag erinnern, mitfühlen, aber auch mahnen, dass mit aller Entschlossenheit gegen terroristische Bedrohungen vorgegangen werden muss.

Die musikalische Gestaltung übernehmen junge Stipendiatinnen und Stipendiaten der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker aus Deutschland, Italien, den USA, Russland und der Ukraine. Wir freuen uns, dass Sie hier sind.

Ihnen allen ein herzliches Dankeschön dafür, dass Sie an diesem Tag mitwirken, an diesem 11. März, an dem uns auch die schrecklichen Gewalttaten in der Ukraine erschüttern.

Der menschenverachtende Angriffskrieg Putins gegen die Ukraine verursacht schreckliches Leid. Wir helfen gemeinsam den Kindern, Frauen und Männern, die vor dem entsetzlichen Krieg Schutz und Zuflucht suchen. 

Meine sehr geehrten Damen und Herren,

"Unsere Welt steht seither Kopf." Das sind Ajla Kurtovics Worte zwei Jahre nach dem rassistischen Anschlag in Hanau, bei dem ihr Bruder Hamza getötet wurde. Er wurde 22 Jahre alt.

"Da ist nach wie vor ein ganz großer Riss in meinem Leben", sagt Astrid Passin, die ihren Vater bei dem islamistischen Anschlag auf den Breitscheidplatz 2016 verlor. Es vergehe kein Tag, an dem sie nicht voll Schmerz an ihren Verlust denken, an den Terroranschlag, der ihre Angehörigen aus dem Leben gerissen hat. Das sagen Ajla Kurtovic und Astrid Passin.

Sie machen das durch, was alle Mütter, Väter, Söhne, Töchter, was Partner, Verwandte oder Freunde durchleiden, wenn ein Terroranschlag das Leben ihrer Liebsten auslöscht. Die völlige Schockstarre, die Fassungslosigkeit, das "nicht-glauben–können". Der Schmerz, der nie wieder vergeht.

Dennoch stehen viel zu oft nach einem Anschlag die Täter und ihre Motive im Vordergrund. Mit dem heutigen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt wollen wir die Aufmerksamkeit auf das Schicksal der Opfer und ihrer Angehörigen richten.

Wir wollen, dass ihr Schicksal uns allen in Staat und Gesellschaft bewusst ist. Viele kämpfen sich mit großer Kraft zurück ins Leben. Wir dürfen sie dabei nicht alleinlassen. Ich will, dass die Betroffenen und ihre Familien mit mehr Empathie und Sensibilität unterstützt werden – von allen staatlichen Stellen.

Die Spur des rechten Terrors zieht sich durch unsere jüngere Geschichte: Hoyerswerda, Rostock, Mölln, Solingen, der Terror des NSU, der Anschlag am Münchner Olympia-Einkaufszentrum, der Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke, der Terror von Halle und Hanau. Auch das nunmehr über 40 Jahre zurückliegende Attentat auf das Münchener Oktoberfest, bewegt noch immer die Opfer und deren Angehörige.

Die Bedrohung durch den islamistischen Terrorismus hält ebenfalls unverändert an. Trauriges Zeugnis sind der Anschlag auf den Weihnachtsmarkt am Breitscheidplatz, die Messerangriffe in Dresden, in Hamburg oder in Hannover. Wir erinnern an den Anschlag beim Musikfestival in Ansbach, den Anschlag auf der Berliner Autobahn, im Zug bei Würzburg oder der Brandanschlag in Waldkraiburg, der Anschlag auf einen Sikh-Tempel in Essen und am Flughafen in Frankfurt.

Nicht vergessen ist der linksextremistische Terror der Roten Armee Fraktion, der Bewegung 2. Juni und der Revolutionären Zellen, der vor allem in den 1970er und 1980er Jahren für Angst und Schrecken sorgte. Auch diese Attentate wirken bis heute nach und lassen den Hinterbliebenen keine Ruhe.

Ich versichere Ihnen, jedes einzelne Opfer ist uns eine stetige Mahnung, in unseren Bemühungen im Kampf gegen jedwede Form des Extremismus nicht nachzulassen und diesen unerschrocken fortzusetzen. Wachsam und wehrhaft.

Nach einem Anschlag stellt sich nicht nur für die Opfer und Hinterbliebenen die Frage, ob er hätte verhindert werden können. Gab es mögliche Versäumnisse der Behörden? Was muss besser werden? Wie können wir solche Anschläge künftig verhindern? Transparenz, Aufklärung und die Aufarbeitung etwaiger Fehler sind essentiell, um das Vertrauen in den Staat und die Sicherheitsbehörden wiederherzustellen. Der Staat schuldet den Familien der Opfer eine transparente und lückenlose Aufarbeitung des Tatgeschehens und aller Hintergründe.

Deshalb stellt diese Bundesregierung sich ihrer Verantwortung und unterstützt die parlamentarische Aufarbeitung in den unterschiedlichen Untersuchungsausschüssen der Länder und des Bundes.

Dazu gehört auch, aus den Versäumnissen und Fehlern die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen, etwa Veränderungen in der Organisation oder Ausrichtung unserer Sicherheitsbehörden vorzunehmen.

Es ist die höchste staatliche Pflicht, die Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Aber kein Staat kann völlige Sicherheit garantieren.  Der Staat muss aber dafür sorgen, dass den Betroffenen schnell wirksam geholfen wird. Bund, Länder und eine Vielzahl von Opferhilfeeinrichtungen widmen sich diesem Ziel mit großem Engagement.

Konkret entwickelt z.B. das Bundeskriminalamt gemeinsam mit den Ländern die strategische Zusammenarbeit weiter und baut ein spezielles Netzwerk zur Opferfürsorge auf. Unser staatliches Handeln richtet sich nach der Maxime "Der Mensch steht im Mittelpunkt".

Terrorismus, egal welcher extremistischen Form er zuzurechnen ist, ist immer ein Anschlag auf unsere Art zu leben: in Frieden, Freiheit und Demokratie. Jeder einzelne Mensch zählt. Wir werden die Erinnerung an jeden einzelnen wachhalten, der Opfer terroristischer Gewalt wurde. Wir werden sie nicht vergessen. Deshalb stehen wir ab heute jedes Jahr am 11. März gemeinsam in Schmerz und Trauer zusammen.