Zweiter Jahrestag des rassistischen Anschlags in Hanau
Rede 19.02.2022
Rede der Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser
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Ort
Gedenkstätte zu Ehren der Opfer auf dem Hanauer Hauptfriedhof
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Rednerin oder Redner
Bundesministerin des Innern und für Heimat Nancy Faeser
Es gilt das gesprochene Wort.
Liebe Hanauerinnen und Hanauer,
Herr Ministerpräsident, lieber Herr Bouffier,
Herr Oberbürgermeister, lieber Claus Kaminsky,
lieber Herr Imam Macit Bozkurt,
wir gedenken heute der Opfer des rassistischen Anschlags, der Hanau und unser ganzes Land vor zwei Jahren zutiefst erschüttert hat. Der 19. Februar 2020 bleibt ein schrecklicher Einschnitt. Ich kann Ihnen, liebe Familien, die geliebte Menschen verloren haben, auch zwei Jahre danach sagen: Ich fühle mit Ihnen. Ich teile Ihre Trauer. Ich verstehe Ihre Wut. Das Leid, das eigene Kind verloren zu haben, das kann ich gar nicht ermessen. Was Ihnen angetan wurde, zerreißt mir das Herz.
Wir trauern um neun junge Menschen, die furchtbar brutal aus unserer Mitte gerissen wurden. Wir denken heute auch an die Menschen, die verletzt und traumatisiert wurden. Die Opfer waren Hanauerinnen und Hanauer. Daran hat diese Stadt nach der Tat keinerlei Zweifel gelassen. Wenn der Attentäter Hanau spalten wollte, dann hat er das Gegenteil erreicht: mehr Zusammenhalt, Solidarität, Menschlichkeit. Ich erinnere mich an den Abend nach der Tat, an tausende Menschen auf dem Marktplatz, in gemeinsamer Trauer, Wut und Verzweiflung.
Viele hier in Hanau kannten die Ermordeten. Der Täter kannte seine Opfer nicht. Und doch wollte er genau sie treffen. Er ermordete neun Menschen, weil sie eine Einwanderungsgeschichte haben. In seinem mörderischen Rassismus, seinem fanatischen Hass hielt er sie für „Fremde“. Das waren sie nicht. Sie gehörten zu uns, zu unserer Gesellschaft – wie Sie alle heute, wie Ihr und wie ich.
Wir werden Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov nie vergessen. Sie alle waren einzigartig. Sie alle hatten so viel vor in ihrem Leben.
- Gökhan war 37. Er war Maurer, stammte aus einer kurdischen Familie, ist in Hanau aufgewachsen. Gökhan sparte für seine Hochzeit und arbeitete dafür in dem Kiosk, in dem er am 19. Februar ermordet wurde.
- Sedat war 29. Ihm gehörte die Bar „Midnight“. Damit hatte er sich einen Traum erfüllt. Er hat lange Fußball gespielt, beim FC Dietzenbach, dort, wo er aufgewachsen ist.
- Said Nesar war 21. Er hatte deutsche und afghanische Wurzeln, auch er ist in Hanau groß geworden. Bei Goodyear machte er seine Ausbildung. Sein Bruder Etris überlebte den Anschlag schwer verletzt. Von ihm und seiner Schwester Saida wissen wir, wie sehr Said Nesar Hanau als seine Heimat geliebt hat.
- Mercedes war 35. Sie war eine lebensfrohe Frau, in Offenbach geboren und aufgewachsen. Mercedes arbeitete im Kiosk neben der Arena-Bar. Ihre beiden Kinder haben ihre Mutter verloren. Das unfassbare Leid lässt sich kaum in Worte fassen.
- Hamza war 22. Er hatte gerade einen neuen Job angefangen, mit dem er sehr glücklich war. Seine Familie – die Familie Kurtović – habe ich kurz nach dem Attentat zu Hause besucht. Ihre tiefe Trauer und die quälenden Fragen nach dem Warum werde ich nie vergessen.
- Vili-Viorel war auch erst 22. Er kam als Jugendlicher aus Rumänien nach Deutschland, unterbrach seine Ausbildung, um sich liebevoll um seine erkrankte Mutter zu kümmern. Er war ihr einziges Kind. Jeder in Hanau weiß, mit welch beeindruckender Zivilcourage er den Täter verfolgt hat. Verzweifelt versuchte er, den Notruf der Polizei zu erreichen. Vielleicht könnte er noch leben, wenn er die Verfolgung abgebrochen hätte. Es sind Fragen wie diese, die geklärt werden müssen. Nur dann ist an eine Verarbeitung des Geschehenen überhaupt zu denken.
- Fatih war 34. Aus Regensburg kam er nach Hanau, um sich selbständig zu machen. Er war zufällig am Heumarkt, wollte dort nur einen Freund absetzen. Sein Vater, den er immer unterstützt hatte, sagte über ihn: „Er war meine größte Hilfe.“
- Ferhat war 23. Seine Familie hat kurdische Wurzeln. Er ist in Hanau geboren und aufgewachsen, wollte gerade eine eigene Firma gründen. Ferhat war oft in der Arena-Bar. Es war der Ort, an dem er sich mit Freunden traf.
- Kaloyan war 33. Erst seit zwei Jahren war er in Deutschland. Mit seiner Arbeit in der Bar La Votre wollte er seine Familie in Bulgarien unterstützen. Sein kleiner Sohn hat seinen Vater verloren.
Wir können das unermessliche Leid der Angehörigen nicht mildern. Trotzdem werden wir alles tun, um sie so gut wie irgend möglich weiter zu unterstützen.
Dem Hanauer Oberbürgermeister, Dir, lieber Claus Kaminsky, dem Hanauer Opferbeauftragen, Dir, lieber Andreas Jäger, und dem bisherigen Bundesopferbeauftragten Edgar Franke möchte ich von Herzen für ihre unermüdliche Arbeit danken. Und wir denken heute auch an den kürzlich verstorbenen Hessischen Opferbeauftragten und ehemaligen Generalstaatsanwalt Helmut Fünfsinn. Wir sind ihm sehr dankbar und sehr traurig, dass er heute nicht mehr bei uns ist. Seiner Familie gilt mein tief empfundenes Mitgefühl.
Meine Damen und Herren,
als neuer Bundesregierung ist es uns sehr wichtig, die Unterstützung von Terroropfern weiter zu verstärken. Dafür werden auch Sie, lieber Herr Kober, als neuer Bundesopferbeauftragter, da sein.
Am 11. März werden wir gemeinsam den ersten nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt begehen. Aber was wir den Familien der Opfer in besonderer Weise schulden, ist eine transparente und lückenlose Aufarbeitung aller Hintergründe dieses entsetzlichen Anschlags.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat vor einem Jahr bei der Gedenkfeier hier in Hanau von der Bringschuld des Staates gegenüber den Angehörigen gesprochen. Nur wenn diese erfüllt wird, kann verlorenes Vertrauen in unseren Staat wieder wachsen. Heute muss ich sagen: Diese Bringschuld ist noch nicht erfüllt. Es sind noch viele Fragen offen. Diese müssen nun im Untersuchungsausschuss des Hessischen Landtags erklärt werden.
Als Bundesinnenministerin werde ich alles dafür tun, dass auch von Seiten des Bundes jede Transparenz und jede Unterstützung erfolgt. Das ist eine Frage des Mitgefühls und der Verantwortung. Und das ist mein Verständnis von einem Staat, der aus Versäumnissen und Fehlern lernt.
Meine Damen und Herren,
der Anschlag von Hanau hat erneut auf schreckliche Weise gezeigt: Nichts bedroht das friedliche Zusammenleben unserer Gesellschaft derzeit so sehr wie der Rechtsextremismus. Deshalb hat dessen Bekämpfung für mich oberste Priorität.
Denn dieser Anschlag kam nicht aus dem Nichts. Und er geschah auch alles andere als zufällig. Die Spur des rechten Terrors zieht sich durch unsere jüngere Geschichte: der NSU, der Mord an Walter Lübcke, der Terror von Halle und Hanau. Das sind die Taten, an die wir uns erinnern. Nicht im öffentlichen Bewusstsein ist, dass es jeden Tag – im Schnitt – drei rechte Gewalttaten in unserem Land gibt. Es gibt viele Menschen, die tagtäglich immer und immer wieder von Rassismus betroffen sind. All diese Taten haben einen Nährboden: ein Klima der Menschenverachtung, das gewaltbereite Extremisten anstachelt und im schlimmsten Fall zur Tat schreiten lässt. Geistige Brandstifter schüren diesen Hass. Diese Hetzer wissen, was sie tun. Und wir müssen sie aufhalten und zur Verantwortung ziehen.
Aber der Kampf gegen den Rechtsextremismus ist nicht nur die Aufgabe von Polizei, Justiz und Sicherheitsbehörden. Es ist auch eine Aufgabe für uns als ganze Gesellschaft. Nur so können wir tief verwurzelter Menschenfeindlichkeit begegnen. Deshalb wollen wir politische Bildung und demokratisches Engagement massiv stärken.
Es beeindruckt mich sehr, was hier in Hanau entstanden ist: Begegnungsräume, Bildungsarbeit gegen Rassismus, Aktionen für Toleranz und Zivilcourage. Das ist die beste Antwort auf Menschenverachtung, Intoleranz und Gewalt. Ich werde immer daran denken, was Serpil Unvar gesagt hat, die Mutter von Ferhat. Ich habe diese Worte auch in meiner ersten Rede im Deutschen Bundestag zitiert: „Unsere Kinder dürfen nicht umsonst gestorben sein. Ihr Tod muss das Ende rassistischer Angriffe sein.“ Das ist für mich Mahnung und Verpflichtung zugleich: Wir werden alles tun, um die Menschen, die in unserem Land bedroht und angegriffen werden, besser zu schützen.
Liebe Familie Gültekin, liebe Familie Gürbüz, liebe Familie Hashemi, liebe Familie Kierpacz, liebe Familie Kurtović, liebe Familie Păun, liebe Familie Saraçoğlu, liebe Familie Unvar und liebe Familie Velkov,
auch Bundeskanzler Olaf Scholz denkt heute sehr an Sie. Noch vor wenigen Monaten waren wir gemeinsam hier bei Ihnen. Ihm ist das Gespräch ebenso nah gegangen wie mir. Im Namen des Bundeskanzlers, der Integrationsbeauftragten Reem Alabali-Radovan und der gesamten Bundesregierung möchte ich Ihnen versichern:
Wir werden immer an Ihrer Seite stehen. Die Opfer des 19. Februar 2020 bleiben für immer ein Teil von uns.
Vielen Dank!