Orientierungsdebatte "Gleichwertige Lebensverhältnisse"

Typ: Rede , Datum: 07.11.2018

Rede von Bundesinnenminister Horst Seehofer im Deutschen Bundestag; Vorstellung Deutschlandatlas

  • Ort

    Deutscher Bundestag

  • Rednerin oder Redner

    Horst Seehofer, Bundesinnenminister

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen!

Deutschland steht ohne jeden Zweifel insgesamt gut da. Aber wir müssen auch sehen, dass die Lebensverhältnisse in einzelnen Regionen höchst unterschiedlich sind: auf der einen Seite überhitzte Ballungsräume, auf der anderen Seite Regionen mit objektiv strukturellen Problemen, Regionen, in denen die Menschen das Gefühl haben, abgehängt zu sein. Deshalb hat die Koalition in ihrem Koalitionsvertrag entschieden, dass wir das Thema "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse", also Fragen nach persönlicher Lebensqualität, nach individuellen Entfaltungsmöglichkeiten in den Problemregionen und nach dem Zusammenleben vor Ort, zu einem zentralen Punkt für diese Legislatur machen.

Ich habe in meinem Ministerium, im Bundesinnenministerium, eine Heimatabteilung gegründet, in der genau zu diesen Fragen und insbesondere zu dem Oberthema „gleichwertige Lebensverhältnisse“ Antworten und Lösungen erarbeitet werden. Ich möchte für unsere weitere Diskussion und Arbeit, die uns in den nächsten Monaten, ja, ich sage, in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen werden, zwei Dinge vorwegstellen:

Gleichwertige Lebensverhältnisse werden wir nicht erreichen durch einen zentralstaatlichen Dirigismus, sondern nur durch ein partnerschaftliches Zusammenwirken von Bund, Ländern und Kommunen.

Dabei sind die Kommunen von zentraler Bedeutung, weil dort die Menschen leben. Dort ist ihr Lebensmittelpunkt. Dort besuchen sie die Kita, die Schule. Dort haben sie den Arbeitsplatz und den Sportverein, und dort verbringen sie ihre Freizeit. Deshalb möchte ich hier für die Bundesregierung sagen: Für uns wird ein ganz zentrales Ziel sein, vor allem die Kommunen hier einzubeziehen.

Wenn wir uns eine Karte von Deutschland ansehen, dann identifizieren wir gleichzeitig auch ein Thema, nämlich dass die Finanzkraft der Kommunen in Deutschland höchst unterschiedlich ist. Wir müssen uns in unserer Arbeit auch mit diesem Thema intensiv beschäftigen, insbesondere auch mit jenen Kommunen, die wegen ihrer Altschulden in einer schwierigen Lage sind. Zum großen Teil können sie nichts dafür, weil sie strukturelle Veränderungen erlebt haben; ich denke jetzt an manche Kommunen im Saarland - Kohle, Stahl -, an Bremen mit den Werften. Das sind unverschuldete Strukturveränderungen, die diese Kommunen noch eine lange Zeit belasten werden. Deshalb müssen wir bei dieser partnerschaftlichen Zusammenarbeit auch auf die Finanzkraft, auf die Finanzausstattung sehen.

Das Zweite, was ich deutlich sagen möchte, ist: Gleichwertigkeit der Lebenschancen heißt nicht Gleichmacherei. Gleiche Chancen wollen wir den Menschen in allen Regionen Deutschlands eröffnen. Allerdings heißt das nicht: identische Verhältnisse überall. Ich will ausdrücklich sagen, dass die regionale und kulturelle Vielfalt in Deutschland dieses Land auszeichnet,

dass die regionale und kulturelle Vielfalt die Grundlage unseres Wohlstands und auch die Grundlage unserer politischen Stabilität und kulturellen Identität ist.

Also: Wir wollen den Menschen die gleichen Chancen eröffnen, aber es sollte nicht unser Bestreben sein, die Vielfalt in unserem Lande in eine Gleichmacherei zu überführen.

Der dritte Punkt, meine Damen und Herren, ist: Wir gleichen die Unterschiede bisher durch den Bund-Länder-Finanzausgleich aus; das ist auch gut so. Der soll auch bleiben - ich habe ja selbst an der Neuordnung des Bund-Länder-Finanzausgleichs mitgewirkt -, aber wir müssen klar sehen, dass der Bund-Länder-Finanzausgleich zwar hilft, aber strukturelle Probleme nicht löst.

Ich habe schon als bayerischer Ministerpräsident während der Verhandlungen immer darauf hingewiesen, dass zum Beispiel das Verhältnis der ostdeutschen Länder zu den übrigen Ländern im Hinblick auf die Steuerkraft ein missliches Verhältnis ist. Die ostdeutschen Länder erreichen nur gut 50 Prozent der Steuerkraft der westlichen Länder.

Wenn man versucht, eine solche Tatsache durch den Bund-Länder-Finanzausgleich zu mildern, dann hilft dies natürlich - das soll auch so bleiben -, aber, meine Damen und Herren, wir müssen uns im Klaren sein, dass wir die bestehenden strukturellen Probleme damit nicht lösen.

Ich will Ihnen einige Gedanken zu gleichwertigen Lebensverhältnissen nennen, die die Grundlage unserer Arbeit im Innenministerium und auch in der dafür geschaffenen Kommission sein werden.

Ich glaube, zuallererst sollten wir uns einig sein, dass, wenn ein Staat von sich aus Strukturveränderungen veranlasst - also die Quelle und die Ursache einer Strukturveränderung ist -, dieser Staat zukünftig dann auch in der Pflicht ist, die durch diese Strukturveränderungen entstehenden Nachteile auszugleichen.

Ich verdeutliche das am Beispiel der Kohleregionen. Wenn man sich politisch aus guten Gründen für den Ausstieg aus der Kohle entscheidet, dann, glaube ich, sind wir es der Bevölkerung in diesen Regionen schuldig, gleichzeitig auch eine Antwort darauf mitzuliefern, wie wir diese strukturellen Veränderungen für die Bevölkerung wieder ausgleichen, sodass die Menschen in ihrer Heimat bleiben können. Das halte ich für ganz wichtig.

Wir sind gerade dabei, einen sogenannten Deutschlandatlas zu erstellen, der objektive Kriterien - von der Finanzkraft über die Infrastruktur bis hin zur Arbeitslosigkeit - berücksichtigt, einen Deutschland-Atlas, der uns vor Augen führen soll, in welchen Regionen ein besonderer Handlungsbedarf besteht. Er bildet dafür eine objektive Grundlage. Wir können unsere Politik ja nicht danach ausrichten, wer am lautesten ruft, sondern danach, wo die Probleme objektiv am größten sind. Wir wollen auch dem Parlament diesen Deutschland-Atlas zur Verfügung stellen, sodass jede Abgeordnete und jeder Abgeordnete klar nachvollziehen kann: Wie steht es in Deutschland in den einzelnen Regionen um die einzelnen Indikatoren, die wichtig sind für die Lebensqualität der Menschen? So sehen wir dann, in welchen Räumen besonderer Handlungsbedarf besteht. Mein Vorschlag ist, dass wir unsere politischen Lösungen und Aktivitäten auf diese Räume konzentrieren. Dies betrifft beispielsweise politische Entscheidungen in den Bereichen Daseinsvorsorge, Bildung, wissenschaftliche Einrichtungen sowie der Infrastruktur.

Ich kann aus meiner Erfahrung als bayerischer Ministerpräsident auch noch sagen: Wenn aus einer Region Einrichtungen der Daseinsvorsorge verschwinden, zum Beispiel die Bildungseinrichtungen, wissenschaftliche Einrichtungen, Krankenhäuser, Arztpraxen, dann ist es nur eine Frage der Zeit, bis auch die Menschen aus dieser Region abziehen, um den Einrichtungen der Daseinsvorsorge zu folgen. Und deshalb wird in unserer Überlegung die Frage sehr wichtig sein: Was müssen wir in diesen Regionen mit besonderem Handlungsbedarf tun, damit die notwendigen Einrichtungen der Daseinsvorsorge, vor allem im Bereich der Bildung und Infrastruktur, auch in solchen Regionen vorhanden sind?

Dafür wollen wir keine planwirtschaftlichen Instrumente, das sage ich noch mal. Man erreicht solche Ziele nur mit einem Förder- und Anreizsystem: dass die Länder, Kommunen und auch der Bund Maßnahmen, die sie für notwendig halten, fördern, und die Verantwortlichen in den Regionen unterstützen. Das wird einen langen Atem erfordern. Aus meiner bisherigen Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass es hier nicht reicht, einfach auf den Knopf zu drücken und zu glauben, damit ändert sich von heute auf morgen alles. Vielmehr ist es ein jahrelanger Prozess, den wir schärfer einleiten müssen, als wir es in der Vergangenheit getan haben. Es hat zu diesem Thema im Deutschen Bundestag lange keine Debatte mehr stattgefunden. Ich glaube, es ist gut, dass wir uns mit der heutigen Debatte intensiv um diese Thematik kümmern.

Aus meiner bisherigen Erfahrung möchte ich Ihnen auch sagen: Die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist ohne die Wirtschaft nicht zu erreichen. Wir müssen dafür sorgen, dass die überhitzten Räume - mit all den negativen Auswirkungen wie Verkehrsstau, Absenkung der Lebensqualität oder hohe Mieten - nicht weiter überhitzt werden. Das geht nur, wenn wir uns zum politischen Ziel setzen, die Arbeitsplätze wieder näher zu den Menschen zu bringen. Es gibt eine unheimlich große Anzahl an Pendlerströmen, teilweise werden lange Wege zurückgelegt. Tausende von Menschen sind Wochenendpendler, das heißt, sie sind die ganze Woche an dem Ort, wo sie arbeiten, und kehren nur am Wochenende zurück zu ihrem Lebensmittelpunkt. Auch hier wird es notwendig sein, dass wir als Bundesregierung mit der deutschen Wirtschaft darüber reden, dass Investitionen nicht immer nur in den Ballungsräumen erfolgen, sondern auch in diesen Regionen, von denen ich gerade spreche, wo besonderer Handlungsbedarf besteht.

Wenn man das intensiv betreibt - das kann ich Ihnen sagen -, dann ist dies durchaus von Erfolg gekrönt. Ich könnte einige Beispiele von großen DAX-Konzernen in Bayern erwähnen, die sich bereit erklärt haben, nennenswerte Investitionen nicht im Großraum München, sondern in den ländlichen Regionen zu tätigen; mit vielen positiven Folgen. Wir als Politiker müssen bereit sein, wissenschaftliche Einrichtungen und Einrichtungen im Dienstleistungsbereich, also Behörden, in diesen Regionen entweder neu zu gründen oder dorthin zu verlegen. Sie glauben gar nicht, welche Impulse ausgelöst werden, wenn man zum Beispiel ein Technologiezentrum, ein Institut einer Universität im ländlichen Raum einrichtet: Andere Bereiche, insbesondere aus der mittelständischen Wirtschaft, bilden sich um solche Einrichtungen.

Mir schwebt deshalb vor - das müssen wir in der Koalition noch besprechen; wir führen eine Orientierungsdebatte, in der man etwas freier ist in der Äußerung von Gedanken -,dass wir uns künftig, wenn wir Entscheidungen zu treffen haben ‑ im Kabinett, in der Koalition oder hier im Parlament ‑, auch immer die Frage vorlegen: Welche Auswirkungen hat eine ganz konkrete Entscheidung auf die Erreichung dieses Zieles "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland"? Das sollte eigentlich zum Pflichtenheft der Politik in der Zukunft gehören. Ich glaube, dass wäre auch eine Antwort, die die Bevölkerung erwartet.

Das Herzstück für die Arbeit an der Herstellung der gleichwertigen Lebensverhältnisse in den nächsten Monaten bildet eine Kommission, die wir eingerichtet haben. Neben der Bundeskanzlerin waren in der ersten Sitzung dieser Kommission die wichtigsten Partner vertreten: alle Bundesländer waren hochkarätig vertreten - bis hin zu den Ministerpräsidenten - und die kommunalen Spitzenverbände. Diese Kommission, die ihre Arbeit aufgenommen hat und in sechs Arbeitsgruppen - für alle wichtigen Themen eine Säule - aufgeteilt ist, wird im Juli des nächsten Jahres bereits ihren Bericht vorlegen.

Das zeigt: Wir schieben das nicht auf die lange Bank, sondern es wird jetzt ganz dynamisch daran gearbeitet. Wir werden dann ab Mitte des nächsten Jahres in der Koalition und auch hier im Parlament die Umsetzungsbeschlüsse zu fassen haben.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen,

die Menschen erwarten Halt, Sicherheit und klare Orientierung. Das haben wir auch in unserer Koalitionsvereinbarung zum Ausdruck gebracht. Ich glaube, die Suche nach Lösungen zur Erreichung gleichwertiger Lebensverhältnisse ist eine titanische Aufgabe, die uns ressortübergreifend und lange beschäftigen wird. Dafür brauchen wir einen langen Atem. Ich glaube, wir sollten dieses Generalziel verfolgen: Damit die Menschen dort gut leben können, wo sie gerne leben wollen, nämlich in ihrer Heimat.

Ich danke Ihnen.

Karten zum Thema "Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse in der Bundesrepublik Deutschland" (Deutschlandatlas)