"Die Gefahren haben eine neue Qualität erreicht."
Interview 24.03.2024
Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Interview mit der Süddeutschen Zeitung.
Süddeutsche Zeitung
Frau Faeser, nach dem Anschlag bei Moskau hat sich ein IS-Ableger zur Tat bekannt. Russlands Führung hingegen bezichtigt die Ukraine. Was wissen Sie über die Hintergründe der Tat?
Nach allem, was bisher bekannt ist, ist davon auszugehen, dass die Terrorgruppe „Islamischer Staat Provinz Khorosan“ den mörderischen Terroranschlag in der Nähe von Moskau zu verantworten hat.
Die Terrormiliz Islamischer Staat schien schon mal geschwächt. Nun wurden vergangene Woche in Gera zwei mutmaßliche IS-Mitglieder verhaftet, die einen Anschlag in Schweden geplant haben sollen. Wie aktiv ist der IS in Deutschland?
Vom „ISPK“ geht derzeit auch in Deutschland die größte islamistische Bedrohung aus. Unsere Sicherheitsbehörden sind sehr wachsam und haben die Terrorgruppe schon länger im Blick. Auch die stark erhöhten Schutzmaßnahmen der Sicherheitsbehörden in Köln rund um Weihnachten und Silvester dienten dem Schutz vor möglichen Anschlagsgefahren durch den „ISPK“. Die islamistische Szene steht im Fokus von BKA, Verfassungsschutz und der Sicherheitsbehörden der Länder. Denn die Gefahr durch islamistischen Terrorismus bleibt akut.
Zu den wachsenden Gefahren gehört auch das Erstarken von Rechtsextremisten in Deutschland und der hybride Krieg Putins. Wann gab es zuletzt eine solche Bedrohungslage?
Eines kann man sicher sagen: Die Gefahren haben eine neue Qualität erreicht.
Kann der Staat es überhaupt mit so vielen Gegnern gleichzeitig aufnehmen?
Wir haben alle Gefahren im Blick. Wir haben große Ermittlungserfolge gegen Extremismus. Vor wenigen Tagen hat das BKA zwei Islamisten festgenommen, um den möglichen Anschlag in Schweden zu verhindern. Wir haben rechtsextremistische Taten vereitelt und ein großes Terrornetzwerk von Reichsbürgern aufgedeckt. Wir haben die Sicherheitsbehörden personell verstärkt und auch im Bereich hybrider Bedrohungen wie Cyberangriffen und Spionage neu aufgestellt.
Trotzdem breitet sich im Land ein Gefühl der Schutzlosigkeit aus. Das System wirkt angreifbar. Was wollen Sie dagegen tun?
Demokratie ist keine Selbstverständlichkeit. Sie lebt davon, dass Menschen sie aktiv verteidigen. Viele tun das auch. Tausende sind auf die Straße gegangen, um zu sagen: Wir machen uns stark für unsere Demokratie. Wir wollen nicht, dass sie ausgehöhlt wird. Das ist eine einzigartige Bewegung, die wir als Reaktion auf rechtsextreme Vertreibungspläne erlebt haben.
Reicht das? Braucht es nicht auch eine Zeitenwende für die innere Sicherheit?
Die erleben wir seit Putins furchtbarem Angriffskrieg in der Ukraine. Die Sicherheitslage hat sich völlig verändert. Wir sehen Cyberangriffe in großer Zahl, insbesondere in der Ukraine, aber mit Folgen für uns. Das hat zum Beispiel zum Ausfall der Steuerung von Windanlagen geführt, verursacht durch einen lahmgelegten Satelliten.
Zeitenwende heißt für die Bundeswehr: viele Milliarden mehr. Ihr Etat soll 2025 dagegen schrumpfen. Wie passt das zusammen?
Diese Bundesregierung hat nicht an der inneren Sicherheit gespart, im Gegenteil. Es war richtig, dass die Ampel die Sicherheitsbehörden 2024 von vielen Sparmaßnahmen ausgenommen hat. Die Bundespolizei haben wir sogar um weitere 1000 Stellen verstärkt. Und so muss es auch bleiben.
Das ist aber nicht der Plan des Finanzministers.
Deswegen sage ich es ja. Sicherheit gibt es nicht zum Nulltarif. Wir brauchen ausreichend Geld für eine sichere IT-Infrastruktur und für die Stärkung des Zivilschutzes. Und wir brauchen die nötigen Mittel für das Bundeskriminalamt, das Bundesamt für Verfassungsschutz und die Bundespolizei. Die ist stark unter Druck, die Grenzkontrollen zu vielen Nachbarstaaten sind sehr personalintensiv.
Fast jeder Fünfte in Deutschland sympathisiert mit der AfD, in Sachsen waren es zuletzt sogar 34 Prozent. Was ist die Antwort der Politik?
Wir müssen uns politisch damit auseinandersetzen und klar machen: Die AfD verehrt Putin und verachtet das moderne Deutschland. Sie steht für eine massive Rolle rückwärts: für mehr Armut, weniger Gerechtigkeit, weniger Gleichberechtigung von Frauen. Sie ist ein Standortrisiko, weil sie Fachkräfte abschreckt. Darüber muss man mit den Menschen reden. Und wir müssen zeigen, dass der Rechtsstaat handelt, beispielsweise bei der Begrenzung der irregulären Migration.
Gut 100 Mitarbeiter in der AfD-Fraktion gehören zur rechtsextremen Szene. In Potsdam haben AfD-Funktionäre mit Rechtsextremisten beraten, wie man Eingewanderte loswird. Radikalisiert sich die Partei?
Ja, die AfD hat sich in großen Teilen von einer Anti-Euro-Partei zu einer Anti-Grundgesetz-Partei radikalisiert. In Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen haben die Verfassungsschutzbehörden die AfD schon als gesichert rechtsextremistisch eingestuft. Bundesweit ist sie bisher als Verdachtsfall einer rechtsextremistischen Bestrebung eingestuft.
Wann kommt für Sie ein AfD-Verbot in Frage?
Für mich ist es wichtig, zwei Dinge zu trennen. Verbotsdebatten sind kein Mittel der politischen Auseinandersetzung. Wir sollten stärker mit AfD-Sympathisanten darüber ins Gespräch kommen, was sie in dieser Partei eigentlich sehen. Denn die AfD würde ihre Lage massiv verschlechtern. Das andere ist die Verfassungsfrage. Das Grundgesetz schützt Parteien. Artikel 21 sagt aber auch: Wenn eine Partei die demokratische Grundordnung aggressiv überwinden will, kann sie vom Bundesverfassungsgericht verboten werden. Wenn die Radikalisierung der AfD weitergeht, ist das eine Option, die unsere Verfassung vorsieht.
Wenn sie weitergeht? Also noch kein Verbot?
Zunächst müssen wir die Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts Münster über die aktuelle Einstufung abwarten. Dann wird sich zeigen, ob die AfD weiter als Verdachtsfall beobachtet oder möglicherweise in einem nächsten Schritt auch als gesichert rechtsextremistisch eingestuft werden kann. Das sind Prüfverfahren, die das Bundesamt für Verfassungsschutz vornimmt. Die Regierung nimmt hierauf keinen Einfluss.
Warum betrachten so viele Menschen Einwanderung als Bedrohung?
Vieles kommt zusammen: Wir haben mehr als eine Million Flüchtlinge aus der Ukraine aufgenommen. Und wir hatten im letzten Jahr mehr Asylanträge als im Vorjahr, viele Menschen kamen über die Westbalkan-Route. Wir merken, dass die Kapazitäten von Wohnraum endlich sind und dass in Schulen mehr Kinder dazu kommen. Natürlich erwarten die Menschen völlig zu Recht, dass der Staat diese Dinge regelt. Das tun wir.
Viele glauben doch, bei der Migration ändert sich sowie nichts.
Das stimmt aber nicht. Wir haben uns endlich auf ein Gemeinsames Europäisches Asylsystem geeinigt. Wir haben aktuell sinkende Migrationszahlen, besonders durch Grenzkontrollen. Wir beschleunigen Asylverfahren. Wir haben die Zahl der sicheren Herkunftsstaaten vergrößert, was Abschiebungen erleichtert. Der Staat handelt. Aber ich stelle fest, dass es ein hohes politisches Interesse gibt, andauernd das Gegenteil zu behaupten. Damit wird Stimmung gemacht.
Der Kanzler verspricht Abschiebungen "in großem Stil". Viele bezweifeln das. Sie nicht?
Wir können deutlich mehr abschieben, und tun das auch. Wir haben im letzten Jahr die Rückführungen schon um 27 Prozent gesteigert und werden mit unseren neuen Regelungen weiter vorankommen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen diese Veränderungen auch sehen. Bürgermeister sagen mir, dass sie einen Wandel wahrnehmen. Die CDU-Innenminister aus Brandenburg und Sachsen haben das auch schon öffentlich gesagt. Das trägt dazu bei, dass es in der Bevölkerung auch ankommt.
Laut Kriminalstatistik der Länder steigt die Zahl ausländischer Straftäter vielerorts an. Wie sollte der Staat reagieren?
Wir dürfen das nicht hinnehmen. Es gibt soziale Ursachen wie eigene Gewalterfahrungen durch Terror und Flucht, aber auch Armutsrisiken. Wir sehen zugleich eine gestiegene Jugendkriminalität, auch durch schwerwiegende psychische Folgen der Pandemie. Das sind Ursachen, aber keinesfalls Rechtfertigungen für Gewalt. Die Antwort des Rechtsstaats muss null Toleranz sein: Konsequentes Durchgreifen, spürbare strafrechtliche Folgen, schnellere Abschiebungen von ausländischen Straftätern. Zugleich brauchen wir mehr Prävention, vor allem durch gute Sozialpolitik und eine Integration von Anfang an.
Vor Kurzem sahen Sie Asylverfahren in Drittstaaten jenseits der EU noch sehr kritisch. Ändert sich das jetzt?
Einige Juristen halten Verfahren außerhalb der EU schon jetzt rechtlich für möglich. Andere sagen, man müsste dafür Gesetze ändern. Das prüfen wir. Für mich stellen sich vor allem praktische Fragen: Welches Land wäre bereit, die Asylverfahren von Menschen in großer Zahl zu übernehmen? Das hört sich immer alles so einfach an. In der Praxis ist es das nicht.
Also sind Sie offen dafür?
Ich habe mit pragmatischen Lösungen keine Probleme, wenn sie Menschrechtsstandards einhalten. Dabei geht es auch darum, lebensgefährliche Fluchtrouten zu vermeiden. Wenn Menschen in den Transitstaaten menschenwürdig untergebracht werden können, dann ist es eine Option, Asylgründe dort zu prüfen.
Geheimdienste warnen, Russland fördere gezielt Migration nach Westeuropa. Hat der Kreml bei Flucht und Schleusung seine Finger im Spiel?
Ja. Russland will den Westen auch mit Migration destabilisieren. Menschen werden hier brutal instrumentalisiert. Finnland sieht das im Moment am Druck auf seine Grenze. Wir haben es auch auf der Route über Belarus gesehen. Da werden dann Flüge aus dem Nahen Osten nach Minsk organisiert.
Wie lässt sich das verhindern?
Bei Belarus konnten wir dies durch geschlossenes Handeln der EU eindämmen. Man kann Druck auf Fluggesellschaften ausüben und mit Staaten verhandeln, dass sie ihre Visapolitik ändern.
Die Dienste sehen Deutschland generell im Mittelpunkt russischer "Einflussoperationen". Sie auch?
Wir erleben hier tatsächlich eine neue Dimension der Bedrohungen durch die russische Aggression. Wir sehen Einflussnahmeversuche durch Lügen, durch massive Desinformation. Aber auch die Spionage ist mindestens so aktiv.
Die jüngsten Spionagefälle waren für Deutschland blamabel. Bundeswehroffiziere plauderten unverschlüsselt Geheimnisse aus, BND-Leute konnten geheime Dokumente stehlen und per Handy fotografieren. Was muss sich ändern?
Wenn es ein Handyverbot in sicherheitsrelevanten Besprechungen gibt, muss man das kontrollieren. Innerhalb der Bundesregierung und unserer Sicherheitsbehörden gibt es strengere Sicherheitsprüfungen. Auch von Unternehmen fordern wir, sich Leute genau anzuschauen, die etwa Einfluss auf kritische Infrastrukturen haben.
Kürzlich deckte die Regierung 50.000 russische Fake-Accounts auf. Wie wollen Sie solche Desinformation stoppen?
Putin will das Vertrauen in unsere Demokratie erschüttern. Das werden wir verhindern. Besonders wichtig ist, die Wahlen zu schützen. Wir müssen dafür sorgen, dass es keine Hackerangriffe auf Wahlbehörden oder auf die Übermittlung von Wahlergebnissen gibt. Wir müssen aufpassen, dass mit den Profilen oder Webseiten von Kandidaten kein Unsinn gemacht wird. Auch hier warnen und sensibilisieren wir. Und wir bauen gerade eine Früherkennungseinheit der Regierung gegen Desinformation auf.
Wie soll die helfen?
Diese Einheit soll Desinformation frühzeitig erkennen und ermöglichen, dass wir schneller reagieren. Wir stellen dafür Analysten ein und wollen den Einsatz Künstlicher Intelligenz verstärken. Wir brauchen KI-gestützte Software, um Desinformationskampagnen schon im Ansatz zu erkennen. Wir müssen die Lügen entlarven, bevor sie zu einer großen Welle werden und das Netz fluten.
Reicht Technik? Oder braucht es härtere Gesetze?
Wir brauchen beides. Dazu gehört auch, dass manipulierte Fotos oder Videos in sozialen Netzwerken wie Tiktok gekennzeichnet werden müssen. Nutzerinnen und Nutzern sollten sehen, ob Bilder verändert sind oder künstlich erstellt wurden.
Linksextremisten haben in Brandenburg ungestört einen Strommasten angezündet und das ganze Tesla-Werk lahmgelegt. Gibt es dagegen überhaupt Schutz?
Wir gehen hart gegen diese linksextremistische Bedrohung vor. Gleichzeitig gilt: Die Betreiber kritischer Infrastrukturen müssen den Schutz erhöhen. Vor allem geht es darum, Risikomanagement und Ausfallsicherheit zu stärken. Wir werden jetzt in einem Gesetz erstmals klar machen, welche Schutzstandards gelten müssen. Viele Unternehmen schützen ihre Windanlagen oder Stromnetze schon sehr gut und haben in Cybersicherheit oder Bewachung investiert. Andere hinken weit hinterher. Die werden nachziehen müssen.
Aber nur, wenn sich die Koalition einigt. Bisher ist das nicht der Fall. Wann kommt dieses Kritis-Dachgesetz?
Wir wollen meinen Gesetzentwurf schnell im Kabinett beschließen.