"Bis zu einem Urteil dürfen nur ein paar Wochen vergehen"

Typ: Interview , Datum: 08.01.2023

Seit den Silvester-Krawallen im Dauereinsatz: Bundesinnenministerin Nancy Faeser ist die Chefin von über 45.000 Bundespolizisten. Faeser hat dort zusätzlich 1.000 neue Planstellen geschaffen. Ein Interview mit der BILD am Sonntag.

BILD am Sonntag

Frau Faeser, hat die Silvesternacht gezeigt, dass es in Deutschland weitgehend rechtsfreie Zonen gibt, in denen Polizei und Rechtsstaat machtlos sind?

Die Silvesternacht hat gezeigt, dass es soziale Brennpunkte gibt, in denen junge Gewalttäter randalieren und nicht mal vor brutaler Gewalt gegen Rettungskräfte zurückschrecken. Wir haben eine neue Qualität der Gewalt erlebt. Aber gleichzeitig hat die Polizei mit vielen Festnahmen durchgegriffen, allein in Berlin 145.

Wie sieht Ihre Bilanz aus: Wie viele Festnahmen hat es bundesweit gegeben?

Einen bundesweiten Überblick werden wir nächste Woche haben. Die Polizeien und Staatsanwaltschaften der Länder ermitteln ja überall mit Hochdruck. Die Zahlen aus den Ländern werden jetzt bundesweit zusammengetragen.

Was weiß man über die Täter aus der Silvesternacht in ganz Deutschland, über ihren Migrationshintergrund, ihr Milieu?

Viele der jungen Gewalttäter in Berlin haben einen Migrationshintergrund, aber das kann in anderen Städten zum Teil ganz anders sein. Ohnehin verbietet sich jedes Pauschalurteil. Wer besonders unter dieser Gewalt gelitten hat, sind auch Menschen mit Migrationshintergrund. Menschen im gleichen Viertel, Nachbarn. Mir haben Einsatzkräfte in Berlin berichtet, wie gerade sie ihnen Schutz geboten haben. Sie müssen wir doppelt schützen: vor Gewalttätern und vor einem Generalverdacht.

In Berlin sind alle Randalierer der Silvesternacht, die festgenommen wurden, wenig später wieder freigelassen worden. Wie erklären Sie das den 41 verletzten Polizisten und 15 verletzten Feuerwehrleuten?

Zunächst mal bedeutet Entlassung aus der Untersuchungshaft nur, dass aus Sicht der Justiz weder Flucht- noch Verdunkelungsgefahr droht. Die Strafverfolgung steht erst am Anfang. Für mich ist jedenfalls klar: Die Polizei muss schnell und konsequent ermitteln – und für die Täter muss die Strafe auf dem Fuße folgen. Junge Gewalttäter müssen sofort klar und deutlich spüren, dass ihr Handeln Konsequenzen hat.

Was heißt denn schnell?

Bis zu einem Urteil dürfen maximal ein paar Wochen vergehen. Nur so kann sich der Rechtsstaat Respekt verschaffen.

Das fordern Politiker und Experten seit Jahren. Passiert ist praktisch nichts, die Strafe folgt nicht auf dem Fuß, sondern wenn überhaupt Monate später. Warum wird nur geredet, aber nicht gehandelt?

Wir haben Häuser des Jugendrechts in mehreren Bundesländern, wo Polizei und Justiz unter einem Dach arbeiten. So etwas brauchen wir in ganz Deutschland. Aber das klappt nur, wenn man nicht an der Justiz spart. Eines geht nicht: Dass dieselben Politiker vormittags ein hartes Durchgreifen des Staates fordern und nachmittags nach Sparmaßnahmen rufen.

Wen meinen Sie damit - den Finanzminister?

Vor allem die CDU: Die kritisiert zu langsame Verfahren und spart gleichzeitig an den falschen Stellen beim Personal.

Auch Ihr Parteifreund, der Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln, beklagt, dass die Justiz zu träge sei. Hat er recht?

Taten sind wichtiger als Worte: Als Bundesinnenministerin trage ich Verantwortung für die Bundespolizei. Die habe ich trotz Sparhaushalt um 1000 Beamte verstärkt. So haben wir in großen Einsatzlagen mehr Hundertschaften. Auch Silvester waren 3000 Bundespolizisten im Einsatz. Wir müssen zeigen: Der Staat lässt sich nicht auf der Nase herumtanzen. Wir haben Regeln. Die gelten für alle, unabhängig von Herkunft oder Vornamen.

Wieso kann man einen Feuerlöscher auf einen Rettungswagen werfen oder eine Leuchtkugel in einen Polizeiwagen schießen, ohne zumindest in längere Untersuchungshaft zu müssen?

Für mich sind das Gewaltdelikte, die streng bestraft werden müssen.

Wie kann es dann sein, dass gegen den Feuerlöscher-Werfer wegen "Zerstörung wichtiger Arbeitsmittel" ermittelt wird und nicht wegen versuchten Totschlags?

Wir haben eine unabhängige Justiz in Deutschland, und das ist gut so. Aber ja, auch ich frage mich das. Hier werden Menschenleben gefährdet. Ich habe Einsatzkräfte aus der Silvesternacht getroffen. Einer sagte: Er ist selbst Kriegskind, mit 19 nach Deutschland gekommen. Er ist eines von Millionen Beispielen gelungener Integration in diesem Land. Und dieser gestandene Feuerwehrmann hatte zum ersten Mal in seinem Berufsleben richtig Angst.

Brauchen Feuerwehr und Rettungsdienste in manchen Städten künftig Polizeischutz?

Solange diese Probleme bestehen, halte ich Polizeischutz für Rettungskräfte bei besonders gefährlichen Einsätzen für sinnvoll. Sicherheit muss oberste Priorität haben. Ich bin für den Einsatz von Bodycams für alle Polizisten in Deutschland, in bestimmten Gebieten auch für Rettungsdienste oder Feuerwehrleute. Diese Kameras erhöhen die Hemmschwelle von Randalierern, Polizisten anzugreifen.

Brauchen wir härtere Gesetze?

Das Strafrecht ist zu Recht schon erheblich verschärft worden. Für Angriffe auf Polizisten oder Rettungskräfte drohen bis zu 5 Jahre Haft, bei gefährlicher Körperverletzung bis zu 10 Jahre. Diese Strafrahmen sollten öfter ausgeschöpft werden.

In München gab es Silvester keinerlei Ausschreitungen, dort ist die Polizei für ihr rigoroses Durchgreifen bekannt. Ist die Polizei andernorts zu lasch?

Wir brauchen flächendeckend eine starke Polizei. Auch in finanziell schwierigen Zeiten darf bei der Polizei nicht gekürzt werden. Im Bund haben wir genau so gehandelt und die Bundespolizei gestärkt.

Bayerns Ministerpräsident Söder bezeichnet Berlin als "Chaos-Stadt", die die Sicherheit ihrer Bürger nicht mehr garantieren könne.

Bei Markus Söder weiß man ja nie, ob er nicht morgen das Gegenteil sagt. Berlin hat mit Franziska Giffey eine Regierende Bürgermeisterin, die die Probleme der Stadt benennt und anpackt. Und bei der Polizei und Feuerwehr vollen Rückhalt haben.

Die Silvester-Krawalle waren nicht die ersten Ausschreitungen dieser Art. Müssen wir uns daran gewöhnen?

Ich werde mich nie an Gewaltexzesse gewöhnen. Nie. Wir haben Verantwortung für jene, die im Auftrag des Staates uns alle schützen: Das sind Rettungsdienste, Feuerwehr, Polizei.

Sollte man die Abgabe von Böllern und Schreckschusspistolen schärfer kontrollieren?

Wir dürfen nicht die Millionen Menschen bestrafen, die auch diesmal völlig friedlich den Jahreswechsel gefeiert haben. Die Länder können Verbotszonen definieren, in denen nicht geböllert werden darf. Das ist an bestimmten Orten sinnvoll. Wir werden dafür sorgen, dass man bereits für den Erwerb von Schreckschusswaffen künftig einen kleinen Waffenschein braucht – nach einer strengen Prüfung der Eignung und Sachkunde. Bisher war der Waffenschein erst für das Führen von Schreckschusswaffen nötig. Diese Waffen sind alles andere als harmlos.

Wie erklären Sie sich diese extreme Gewaltbereitschaft, wie konnte es in Deutschland so weit kommen?

Sicherheit ist auch eine soziale Frage. Der Staat muss in den sozialen Brennpunkten stärker präsent sein, durch Sozial- und Jugendarbeit, aber auch durch die Polizei. Die Kindergärten und Schulen spielen eine sehr wichtige Rolle, um frühzeitig unsere Regeln und Werte zu vermitteln. Es muss allen klar sein: Es gibt null Toleranz für Gewalt!

100 der 145 in Berlin festgenommenen Silvester-Gewalttäter sind Ausländer. Wieso wird von der Politik kaum thematisiert, dass wir ein Problem mit Migranten haben, die unseren Staat nicht akzeptieren und unsere Toleranz als Schwäche sehen?

Ich habe deutlich gesagt, dass es ein Problem mit Gewalttätern mit Migrationshintergrund gibt, die mit Bildungs- und Integrationsprogrammen nicht mehr erreicht werden und diese Gesellschaft ablehnen. Den Klartext gibt es bei mir genauso bei Clankriminalität oder militanten Reichsbürgern.

Waren auch Asylbewerber unter den Tätern? Falls ja, warum werden diese nicht im Schnellverfahren abgeschoben?

Das ist Aufgabe der Länder. Überall dort laufen die Ermittlungen im Moment. Wenn es Gründe für Ausweisungen gibt, müssen diese auch vollzogen werden.

Sie haben angekündigt, das ausländische Straftäter schneller abgeschoben werden. Ihre Bilanz sieht aber sehr bescheiden aus. Was sind die Gründe?

Das liegt häufig an den Herkunftsländern, die ihre Staatsbürger nicht zurücknehmen wollen. Wir arbeiten mit diesen Ländern an Migrationsabkommen zur Rückführung. Andere sind in dieser Frage weiter. Deutschland hat in der Vergangenheit viel versäumt.

Joachim Stamp, der neue Sonderbeauftragte der Bundesregierung für Migration, will dass Menschen ohne Bleiberecht auch wieder konsequent in ihre Herkunftsländer zurückkehren. Wie wird das umgesetzt?

Indem wir Abkommen mit den Herkunftsländern schließen: Wir ermöglichen Wege, um für Ausbildung oder Arbeit nach Deutschland zu kommen – für qualifizierte Kräfte, die wir dringend brauchen. Und gleichzeitig vereinbaren wir: Menschen, die kein Bleiberecht haben, müssen von ihren Herkunftsländern wieder aufgenommen werden. Nach klaren Kriterien. Mit Indien haben wir gerade genau solch ein Abkommen geschlossen.

Und was ist mit den Ländern, die sich weigern ihre in Deutschland kriminell gewordene Landsleute zurückzunehmen?

Mit denen müssen wir respektvoll, aber deutlich sprechen. Deutschland ist eine wichtige Stimme in internationalen Verhandlungen.

Nicht nur die Gewalt an Silvestern, auch ein geplanter Putsch-Versuch aus der Reichsbürger-Szene erschütterte Deutschland. Wie ist der aktuelle Stand bei den Ermittlungen?

Der Generalbundesanwalt und das Bundeskriminalamt ermitteln weiter intensiv. 25 Terrorverdächtige sind verhaftet worden. Viele Waffen, Bargeld und Gold sind sichergestellt worden. Dieser Fall zeigt, dass es bis hinein in bürgerliche Kreise Parallelgesellschaften gibt, die von Verschwörungsgedanken und Umsturzfantasien geleitet sind und unseren Staat angreifen wollen.

Sie wollen die Waffengesetze verschärfen. Wie und wann?

Den Gesetzentwurf werde ich jetzt vorlegen. Klar ist: Wir müssen Extremisten noch konsequenter die Waffen entziehen. Waffenbehörden, Polizei und Verfassungsschutz müssen sich noch enger austauschen. Da beziehen wir künftig auch die Gesundheitsbehörden ein, damit Menschen, die psychisch krank sind und von denen eine Gefahr ausgeht, keine Waffen besitzen.

Die Sportschützen und Schützenvereine werden das nicht gut finden.

Sportschützen haben auch ein großes Interesse daran, dass Waffen nicht in falsche Hände kommen. Für eine Armbrust, die bei Reichsbürgern beliebt ist, braucht man nach meinem Gesetzentwurf künftig einen Waffenschein. Und wenn wir jetzt zum Beispiel halbautomatische Sturmgewehre vollständig verbieten, kann doch niemand ernsthaft etwas dagegen haben. Das sind Waffen, die Kriegswaffen ähneln. Mit solchen Waffen sind in den USA furchtbare Amokläufe an Schulen begangen worden.

Übernehmen Sie bald einen neuen Job als SPD-Spitzenkandidatin in Hessen?

Ich bin mit voller Kraft und großer Leidenschaft Bundesinnenministerin. Wir haben in der hessischen SPD einen Fahrplan vereinbart, im Februar über die Spitzenkandidatur zur Landtagswahl zu entscheiden.