"Häusliche Gewalt gibt es in allen Schichten. Keine Frau darf sich dafür schämen"

Typ: Interview , Datum: 04.06.2023

Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Interview mit FOCUS.

FOCUS

Frau Ministerin, 2021 wurden in Deutschland 109 Frauen und 12 Männer Opfer von vollendetem Mord und Totschlag. 143.016 Fälle von Partnerschaftsgewalt wurden angezeigt. Bei der Vorstellung dieser Zahlen im November sagten sie, die Bundesregierung müsse der Gewalt gegen Frauen "entschlossen entgegentreten". Was meinen Sie damit?

Dass wir als Bundesregierung in der Pflicht stehen, das Thema Gewalt gegen Frauen noch ernster zu nehmen. Diese schrecklichen Taten dürfen niemanden kaltlassen. Niemand darf die betroffenen Frauen damit alleine lassen. Gewalt gegen Frauen ist keine Privatsache, sondern ein gravierendes gesellschaftliches Problem, das wir bekämpfen müssen. Ganz wichtig ist: Nicht erst Schläge oder Misshandlungen sind Gewalt. Es geht auch um Frauen, die von ihren Partnern bedroht werden, oder die genötigt werden, etwas zu tun, das sie nicht tun wollen. Am wichtigsten ist mir das Sichtbarmachen häuslicher Gewalt. Wir müssen alte Tabus brechen und endlich klar sagen, was Sache ist. Dazu gehört auch, nicht mehr von Beziehungstragödien zu sprechen, wenn Frauen brutal von Ex-Partnern ermordet werden. Das sind Femizide – Morde an Frauen. Die müssen so benannt und auch so bestraft werden: mit lebenslanger Haft

Wie sieht der Beitrag der Ampel konkret aus?

Wir müssen vor allem viel mehr im Bereich der Prävention tun. Dazu zählt, dass diese Bundesregierung endlich die Istanbul-Konvention – den internationalen Standard zum Schutz von Frauen – vollständig umsetzt. Deutschland hat sich damit verpflichtet, Gewalt gegen Frauen zu verhüten, zu verfolgen und zu bekämpfen. Wir sorgen zum einen für mehr Schutzräume für Frauen, vor allem stärken wir die Frauenhäuser. Zum anderen gehört dazu die verstärkte Aus- und Fortbildung in der Polizei, um frühzeitig und sensibel auf solche Taten zu reagieren und überall in Deutschland gut ausgebildete Ansprechpartner für die Betroffenen zu haben.

Häusliche Gewalt ist ein Querschnittsthema zwischen Innen-, Familien- und Justizressort. Gehört es nicht eigentlich federführend in den Bereich innere Sicherheit, also ins Bundesinnenministerium?

Unsere Ministerien arbeiten sehr gut zusammen. Dafür bin ich insbesondere meiner Kollegin, der Bundesfamilienministerin Lisa Paus sehr dankbar. Wir wollen vor allem Licht in das riesige Dunkelfeld bringen. Um noch gezielter handeln zu können, brauchen wir verlässliche Daten. Daher führen wir sehr aufwändige Dunkelfeldstudien durch, bei denen Frauen auch nach Gewalterfahrungen befragt werden. Noch immer werden leider viel zu wenige Taten angezeigt, der Anteil der angezeigten Taten liegt zum Teil – je nach Delikt – unter 10 Prozent. Aber klar ist doch: Nur wenn der Polizei Taten bekanntwerden, können Täter zur Rechenschaft gezogen werden.

Ein großes Problem der Betroffenen ist die Nachtrennungsgewalt. Wie können Frauen davor geschützt werden?

Männer, die Frauen Gewalt antun, müssen sehr konsequent aus den Wohnungen verwiesen werden. Die gesetzlichen Möglichkeiten müssen ausgeschöpft werden – und das muss auch kontrolliert werden, um Frauen zu schützen. Oft erfolgt dieser Verweis an dem Abend, wenn die Polizei gerufen wird, und die Fälle versanden schnell wieder und die Täter kehren zurück. Die Frauen müssen sich wirklich sicher fühlen können, nicht erneut unter den Einfluss eines gewalttätigen Partners oder Ex-Partners zu geraten.

In Hessen fordert CDU-Ministerpräsident Boris Rhein Fußfesseln für Gewalttäter. Das Näherungsverbot schütze die Opfer zu wenig. Unterstützen Sie das?

Ich freue mich über das neue Interesse am Thema. In meinem Heimatland Hessen gibt es viel Nachholbedarf beim Schutz von Frauen. Entscheidend ist, Gewalttäter im Blick zu behalten. Sie dürfen nicht wieder vom Radar verschwinden. Der Schutz der von Gewalt betroffenen Frauen muss im Mittelpunkt stehen. In einigen Bundesländern besteht schon die gesetzliche Möglichkeit, den Aufenthalt von Gewalttätern digital zu überwachen, um Kontakte zwischen potenziellem Opfer und Täter zu verhindern. Das finde ich richtig. Aber es geht nichts über ausreichende und schnelle Polizeipräsenz.

In Spanien gilt seit 2004 ein Gesetz gegen geschlechtsspezifische Gewalt, es gibt eigene Gerichte und Staatsanwaltschaften. Das führt zu wachsendem Vertrauen in die Behörden. Ist derlei auch in Deutschland geplant?

Es ist die Verantwortung der Justizminister, auch in der Justiz dafür zu sorgen, dass Betroffene von Gewalt mehr Aufmerksamkeit und Sensibilität erfahren. Hier kommt es auf Erfahrung mit solchen Fällen an – diese Erfahrung zu bündeln, ist sinnvoll. Es ist aus meiner Sicht ganz klar, dass wir hier mehr tun müssen.

In Spanien wird für mehr Sichtbarkeit und öffentliche Debatte ausführlich über Femizide berichtet. Zahlen werden vom Innenministerium vierteljährlich aktualisiert, und es gibt eine dreistellige Notrufnummer für Frauen. Warum ist das hierzulande nicht so?

Natürlich gibt es auch in Deutschland ein vom Familienministerium angebotenes Hilfetelefon – 08000 116 016 –, an das sich Frauen rund um die Uhr in vielen Sprachen wenden können und wo sie sofort professionelle Hilfe erhalten. Und natürlich erfassen wir die Zahlen und veröffentlichen sie in unserer BKA-Statistik zur Partnerschaftsgewalt. Aber klar ist auch: Das Thema muss endlich in der Mitte der Gesellschaft ankommen. Und es muss Schluss sein damit, häusliche Gewalt als Problem der sozialen Ränder zu stigmatisieren. Das ist Unsinn. Häusliche Gewalt gibt es in allen Schichten. Und: Keine Frau darf sich dafür schämen.

Noch eine Frage an die Bürgerin Faeser: Würden Sie sich bei dem Verdacht auf häusliche Gewalt in Ihrer Nachbarschaft einmischen? Wie?

Ja, immer. Wenn ich das Gefühl hätte, dass eine Frau, eine Freundin oder Nachbarin, in meinem Umfeld gefährdet ist, würde ich das ansprechen und sie ermutigen, Anzeige zu erstatten. Und ich würde ihr zur Seite stehen, so gut es geht.