"Messerverbote in Bus und Bahn"
Interview 06.04.2023
Bundesinnenministerin Nancy Faeser im Interview mit der FUNKE Mediengruppe.
Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ)
Frau Faeser, ist Deutschland unsicherer geworden? Die Kriminalität hat im vergangenen Jahr um 11,5 Prozent zugenommen …
Deutschland ist nach wie vor ein sicheres Land. Die Kriminalität ist deutlich geringer als vor zehn Jahren. Dass die Zahlen jetzt wieder gestiegen sind, hat viel mit dem vorherigen Rückgang in der Corona-Zeit zu tun. Diebstähle, aber auch Körperverletzungen oder Raubdelikte gehen natürlich zurück, wenn Menschen kaum noch unterwegs sind. Dennoch schauen wir aufmerksam auf die Zahlen. Mir ist vor allem wichtig, Gewalt gegen Kinder und gegen Frauen zu bekämpfen. Die Verbreitung furchtbarer Bilder und Videos von sexuellem Missbrauch von Kindern ist nochmals um acht Prozent gestiegen – auch weil wir mehr erkennen und aufklären.
Um welche Taten handelt es sich?
Bei Frauen ist es häufig die häusliche Gewalt. Sexualisierte Gewalt gegen Kinder findet ebenfalls oft im engen Umfeld statt, wo Vertrauensverhältnisse existieren: in der eigenen Familie, im Sportverein, im Kindergarten. Auch das macht die Taten so schlimm. Im digitalen Leben hat das sogenannte Grooming zugenommen: Erwachsene nähern sich Jugendlichen im Netz und drängen sie zu sexuellen Handlungen.
Ist der Staat da machtlos?
Wir haben im Bundeskriminalamt das Personal aufgestockt, um diese widerlichste Form der Kriminalität zu bekämpfen. Gute Arbeit machen auch viele Landeskriminalämter. Nachholbedarf haben wir bei der Justiz: Gerichte und Staatsanwaltschaften brauchen mehr Personal, damit sie die vielen Fälle schnell bearbeiten können. Außerdem müssen wir über weitergehende Schutzmaßnahmen im Netz nachdenken.
Worauf wollen Sie hinaus?
Wir brauchen schärfere Regeln: Die Anbieter von digitalen Plattformen müssen es den Behörden melden, wenn sie auf sexualisierte Gewalt gegen Kinder stoßen. Darüber verhandele ich gerade intensiv mit meinen Kolleginnen und Kollegen in der EU. Wir werden Onlineplattformen in die Pflicht nehmen, damit Missbrauchsdarstellungen entdeckt, gelöscht und die Täter verfolgt werden. Und, ganz wichtig: Wenn wir die Täter ermitteln wollen, brauchen wir von den Kommunikationsanbietern die IP-Adressen.
Sie spielen auf die Vorratsdatenspeicherung an, die der Europäische Gerichtshof verworfen hat.
Nein, mir geht es nur um die Speicherung von IP-Adressen, mit denen ein Computer eindeutig identifiziert werden kann - und die hat der Europäische Gerichtshof ausdrücklich für zulässig erachtet. Es geht nicht um weitere Daten.
Justizminister Marco Buschmann lehnt eine anlasslose Speicherung von Verbindungsdaten ab. Er will ein sogenanntes Quick-Freeze-Verfahren durchsetzen - und nur jene Daten sichern, die einen möglichem Bezug zu Straftaten haben.
Wir müssen die Schutzbedürftigsten in unserer Gesellschaft vor der schlimmsten Form der Kriminalität schützen. Wir brauchen die notwendigen Instrumente, um Kindesmissbrauch wirksam zu bekämpfen. Ich will mit dem Justizminister zu einer Lösung kommen. Das Quick-Freeze-Verfahren wird allerdings nur funktionieren, wenn es überhaupt Daten gibt, die man einfrieren kann. Die meisten Kommunikationsanbieter speichern IP-Adressen inzwischen nur noch wenige Tage.
Welche Speicherfristen halten Sie für erforderlich?
Das klären wir gerade. Es geht um einen kurzen Zeitraum. Ich muss den Opfern und ihren Angehörigen ins Gesicht schauen und sagen können: Wir haben als Staat alles getan, um euch zu schützen.
Gleichzeitig wird in der Koalition über eine Entschärfung des Sexualstrafrechts diskutiert. Wie passt das zusammen?
Das ist Sache der Justizminister. Eine Strafverschärfung hat dazu geführt, dass Jugendlichen empfindliche Strafen drohen, wenn sie untereinander Nacktbilder austauschen. Hier ist es wichtiger, ein Bewusstsein für die Risiken zu schaffen, wenn man privateste Dinge teilt, als mit harten strafrechtlichen Sanktionen vorzugehen.
Wollen Sie das tolerieren?
Nein, aber es geht auch um Prioritäten. Dann hätten die Ermittlungsbehörden auch mehr Luft, die wirklich schlimmen Taten zu bekämpfen.
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die insgesamt unter Tatverdacht geraten sind, ist um mehr als ein Drittel gestiegen. Haben Sie dafür eine Erklärung?
Wir sehen Folgen der Corona-Pandemie, die es für Kinder und Jugendliche sehr schwer gemacht hat. Die Antwort ist auch hier weniger eine strafrechtliche, als eine sozialpolitische. Wir müssen viel stärker präventiv wirken - etwa mit flächendeckender Sozialarbeit an Schulen. Wir müssen uns um Kinder und Jugendliche kümmern, wenn wir merken, dass sie aggressiv oder auffällig werden.
Glauben Sie, so lassen sich auch Kapitalverbrechen wie in Freudenberg verhindern, wo eine Zwölfjährige mutmaßlich von zwei gleichaltrigen Mädchen erstochen wurde?
Was dort geschehen ist, hat mich tief erschüttert. Eine solch furchtbare Tat kommt sehr selten vor. Hier sind noch viele Fragen offen. Wenn wir auf andere Fälle schauen, dann ist Mobbing ein wichtiges Thema, auch in den sozialen Medien. Hier ist es wichtig, früh einzugreifen und gegenzusteuern.
Eine Herabsetzung der Strafmündigkeit lehnen Sie ab? Die Haupttäterin soll vor der Bluttat gegoogelt haben, ob sie schon strafmündig sei oder straflos davonkomme.
Alles an diesem Fall ist schrecklich. Kriminologen und Psychologen haben aber aus gutem Grund empfohlen, die Strafmündigkeit bei 14 Jahren zu belassen. Für Jüngere gilt das Jugendhilferecht, das Maßnahmen bis zur geschlossenen Unterbringung ermöglicht. Ich finde es nicht richtig, einen so furchtbaren Fall heranzuziehen, um eine Debatte über die Strafmündigkeit anzufangen.
Messer werden oft zur Tatwaffe - auch bei der Attacke von Brokstedt, der zwei Schülerinnen in einem Regionalzug zum Opfer fielen. Sollte der Staat den Gebrauch von Messern einschränken?
Gewalttäter können mit Messern Furchtbares anrichten. Zugleich sind Messer fast überall im Alltag verfügbar. Schon mit einem Küchenmesser kann man Menschen sehr schwer verletzen. Was hilft, sind mehr Kontrollen. Dafür braucht man Personal. Wichtig sind mehr Sicherheitskräfte, gerade im Nahverkehr, und mehr Polizei auf bestimmten Plätzen. Das würde die Tatgelegenheiten stark verringern. Ich appelliere an die Länder, die notwendigen Maßnahmen zu ergreifen. Wir sollten auch über Messerverbote in öffentlichen Verkehrsmitteln nachdenken. Wer mit dem Flugzeug reist, darf ja auch kein Messer mitnehmen. Ein wirksames Mittel können auch Waffenverbotszonen an bestimmten Orten sein, dann sind viel striktere Kontrollen möglich.
Wenn junge Menschen zu Straftätern werden - welche Rolle spielt dabei die Herkunft?
Jugendgewalt hat erst einmal nichts damit zu tun, aus welchem Land jemand kommt, sondern mit Risikofaktoren wie Gewalt und Belastungen in der Familie. Wenn Gewalt von Jugendlichen mit Migrationshintergrund ausgeht, muss man das aber auch offen ansprechen, um gezielt dagegen vorgehen zu können. Falsch verstandene Rücksichtnahme nützt nur denen, die Hass und Hetze verbreiten.
Wie wirkt sich der Zustrom von Flüchtlingen aus der Ukraine aus?
Menschen, die aus dem Krieg geflüchtet sind, bringen furchtbare Erfahrungen mit. Solche Gewalterfahrungen können nachwirken, gerade bei Kindern und Jugendlichen. Von den fast 1.060.000 Geflüchteten aus der Ukraine, die bei uns Schutz gefunden haben, ist mehr als ein Drittel unter 18 Jahre alt. Das ist auch in der Kriminalstatistik sichtbar: Im letzten Jahr hatten wir über 3.700 tatverdächtige Kinder und Jugendliche aus der Ukraine. 2021, vor Putins Krieg, waren es wenige hundert. Es ist wichtig, hier genau hinzuschauen und die Kinder und Jugendlichen bestmöglich zu betreuen.
Wie konsequent werden ausländische Straftäter abgeschoben?
In Europa geschieht dies insgesamt noch nicht konsequent genug. Das Kernproblem ist, dass Herkunftsstaaten ihre Bürger nicht zurücknehmen. Ich bin sehr aktiv unterwegs für ein gemeinsames europäisches Asylsystem und für gemeinsame Regeln bei den Rückführungen. Dazu dienen Migrationsabkommen mit Herkunftsstaaten, über die wir jetzt verhandeln.
Dänemark erlaubt wieder Abschiebungen nach Syrien. Überlegt die Bundesregierung, nachzuziehen?
Nein. Niemand darf in ein Land abgeschoben werden, wo ihm Folter oder Tod droht. Wir werden auch nicht mit dem Assad-Regime über solche Fragen verhandeln. Was wir derzeit prüfen, ist eine Wiederaufnahme von Abschiebungen von Straftätern und Gefährdern nach Afghanistan. Aber auch dort stellen sich schwierige Fragen angesichts der Herrschaft der Taliban.
Unsere Städte und Gemeinden sind an der Belastungsgrenze. Wie viele Flüchtlinge kann Deutschland noch verkraften?
Wir erleben einen furchtbaren Krieg mitten in Europa. Acht von zehn Geflüchteten kommen aus der Ukraine. Da kann es keine Höchstgrenzen für Menschlichkeit geben. Aber ich weiß, dass die Situation der Kommunen gerade sehr schwer ist. Deshalb arbeiten wir ja so eng zusammen, um die Lage gemeinsam zu bewältigen.
Bekommen die Kommunen die geforderte Unterstützung?
Der Bund hat schon im vergangenen Jahr sehr viel Geld zur Verfügung gestellt - 4,4 Milliarden Euro. Außerdem haben wir die Sozialleistungen für die Flüchtlinge aus der Ukraine übernommen. Für dieses Jahr haben wir den Ländern und Kommunen frühzeitig 2,75 Milliarden Euro an zusätzlicher Unterstützung zugesagt. Ich finde es seltsam, wenn jetzt schon – Anfang April dieses Jahres – gesagt wird, das Geld für dieses Jahr reiche nicht aus. Darüber wird im Mai beim Gipfeltreffen mit den Ministerpräsidenten beraten, zu dem Olaf Scholz ins Kanzleramt eingeladen hat.