"Politik und DFB müssen genau hinschauen"

Typ: Interview , Datum: 06.11.2022

Bundesinnenministerin Nancy Faeser und DFB-Präsident Bernd Neuendorf im Interview mit der WamS.

Welt am Sonntag

Nancy Faeser hat dem umstrittenen Ausrichter der WM eine Sicherheitsgarantie abgerungen. Auch nach dem Turnier dürfe man die Lage in Katar nicht aus den Augen verlieren, erklärt DFB-Präsident Bernd Neuendorf im Doppelinterview mit der Innenministerin. Es war ein anstrengender 23-Stunden-Trip für Nancy Faeser und Bernd Neuendorf. Aber ein sehr erfolgreicher. Die Bundesinnenministerin und der Präsident des Deutschen Fußball-Bundes (DFB) führten in dieser Woche in Katar etliche Gespräche über die Gewährleistung der Sicherheit der deutschen Fanswährend der Fußball-Weltmeisterschaft vom 20. November bis zum 18. Dezember, das wichtigste mit dem Premierminister des Emirats.

Frau Faeser, auf Ihrer Katar-Reise haben Sie von Premier- und Innenminister Scheich Khalid bin Khalifa bin Abdulaziz Al Thani die von Ihnen geforderte Sicherheitsgarantie für WM-Fans aus Deutschland bekommen – auch für die Anhänger aus der LGBTQIA-Community. Können Sie diesen jetzt garantieren, dass sie Regenbogenfahnen zeigen oder händchenhaltend und küssend durch Doha spazieren können, ohne inhaftiert oder ausgepeitscht zu werden?

Nancy Faeser: Für mich war diese Sicherheitsgarantie der wichtigste Punkt meiner Reise. Der Premierminister hat mir zugesichert, dass alle Menschen bei dieser WM sicher sind – egal, woher sie kommen, wen sie lieben und woran sie glauben. Es ist ein Erfolg, dass ich diese Zusage bekommen habe. Ich wiederum kann natürlich keine Garantien übernehmen. Aber dieses Bekenntnis von demjenigen, der in Katar die Verantwortung für die innere Sicherheit trägt, ist unheimlich wichtig. Auch für jeden Fan, der sich fragt, ob er zur WM reisen kann.

Wie glaubhaft ist diese Sicherheitsgarantie, die auch die Fifa abgibt, vor dem Hintergrund, dass noch im September vier Transgender-Frauen, eine bisexuelle Frau und ein schwuler Mann festgenommen wurden, wochenlang in einem unterirdischen Gefängnis in U-Haft saßen und nach eigenen Angaben misshandelt worden sind?

Nancy Faeser: Solche Vorfälle habe ich gegenüber der Regierung deutlich angesprochen. Katar steht am Anfang der Reformprozesse. Wir haben in den letzten Tagen gesehen, dass sich Katar anders als andere Staaten in der Region auf den Weg gemacht hat, insbesondere was die Verbesserung der Situation der Wanderarbeiter betrifft. Aber ich habe auch klar gesagt: Es ist nicht alles gut. Rechtliche Änderungen müssen sich auch in der Lebenswirklichkeit der Menschen zeigen. Deshalb werden wir die Reformbestrebungen vor allem auch nach der WM unterstützen, wenn nicht mehr die ganze Welt hinschaut.

Bernd Neuendorf: Die Katarer sagen selbst, dass sie sich auf einer Reise hin zu einer liberaleren Gesellschaft befinden und weitere Reformen notwendig sind. In den Gesprächen haben wir auch erfahren, dass sie für die WM ein Volunteers-Programm entwickelt haben, das deeskalierend und präventiv wirken soll. Das war mir neu und das ist eine gute Nachricht. Als DFB unternehmen wir auch eine Menge Anstrengungen, um die Sicherheit der Fans zu gewähren. Deutschland ist eines der wenigen Länder, das während der WM eine Fan-Botschaft in Katar einrichtet, an die sich Menschen wenden können, wenn sie Probleme jedweder Art haben – sei es, dass sie Opfer von Übergriffen geworden sind, sei es, dass sie ihre Pässe oder Tickets verloren haben.

Nancy Faeser: Im Volunteers-Programm gibt es speziell geschulte Helfer für Menschenrechte, die genau hinsehen sollen und da sind für Menschen, wenn es nötig ist. Auch bei der Ausbildung der katarischen Polizeikräfte hat das Thema in den letzten Jahren eine Rolle gespielt.

Beim Treffen mit dem Scheich war auch Katars Polizeipräsident anwesend und hat erläutert, dass es neben "normalen" Polizisten extra für 70 Fan-Situationen unter der Überschrift „Deeskalation“ speziell geschulte Beamte nur für den WM-Einsatz gibt. Wird dem schwulen Fan die Regenbogenfahne also nicht brutal aus den Händen gerissen, sondern er wird höflich gebeten, sie wieder einzupacken?

Nancy Faeser: Es gilt zu verhindern, dass Menschen beleidigt oder angegriffen werden, nur weil sie händchenhaltend durch die Gegend laufen oder zum Beispiel aus Israel kommen und Kippa tragen. Es geht nicht nur um die Katarer, es kommen viele Fans aus aller Welt…

… auch aus dem Iran, der rigoros gegen Schwule und Lesben vorgeht und die arabische Welt zur Vernichtung Israels aufruft…

Nancy Faeser: Polizisten müssen Menschen schützen – und dürfen niemanden diskriminieren und verfolgen, weil er seine gleichgeschlechtliche Liebe zeigt. Das ist meine klare Erwartung. Gerade bei einer WM, bei der Menschen aus aller Welt kommen und zusammen den Fußball feiern, muss das völlig selbstverständlich sein.

Strikt verboten ist den queeren Fans, mit der Regenbogenfahne eine Moschee zu stürmen. Oder sie einem katarischen Polizisten umzuhängen. Andernfalls droht aber selbst dann nur eine Ermahnung...

Nancy Faeser: Zur Fan-Kultur gehört gegenseitiger Respekt, auch vor der Ausübung von Religion. Die Moscheen in Katar sind für die Öffentlichkeit gar nicht zugänglich.  

Herr Neuendorf, die Regenbogenfahne ist für die Katarer ein rotes Tuch. Die One-Love-Binde, die neun Teams aus Europa bei der WM tragen werden, hat für die Katarer dagegen keinerlei Bedeutung – und verfehlt damit den Zweck, ein Zeichen gegen die Menschenrechtsverletzungen in Katar zu setzen. Trotzdem trägt auch die DFB-Auswahl die One-Love-Binde – weil der Mut fehlt, sich mit den Katarern anzulegen?

Bernd Neuendorf: Ich war einigermaßen überrascht, dass es so interpretiert wurde, dass wir uns nicht trauen, die Regenbogen-Binde zu zeigen. Wir waren in einer Arbeitsgruppe mehrerer europäischer Länder dabei, die für die WM qualifiziert sind. Wir haben gemeinsam überlegt, mit welchen Ideen und Maßnahmen wir unsere Position zum Ausdruck bringen können. Eine dieser Maßnahmen ist das Tragen der One-Love-Binde. Sie heißt One Love, weil wir uns alle dem Spiel verpflichtet fühlen und den Fußball lieben. Die Binde ist ein generelles Zeichen für Vielfalt und Toleranz – sie steht für die Rechte der LGBTQ Community, aber auch für Frauenrechte, Meinungsfreiheit und Arbeitnehmerrechte. Sie ist ein Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus.

Das sehen Vertreter der LGBTQIA-Community ganz anders, darunter der frühere Frankfurter Zweitliga-Manager Bernd Reisig und Benjamin Näßler, der Mr. Gay Germany 2020/21 und Gründer der Initiative „Liebe kennt keine Pause“. Beide haben auf Einladung von Frau Faeser an der Katar-Reise teilgenommen.

Bernd Neuendorf: Die Diskussion über die One-Love-Binde wird in Deutschland mitunter sehr heftig geführt. Sie findet in den anderen europäischen Ländern, mit denen wir uns darauf verständigt haben, nicht in dieser Intensität statt. Im Gegenteil: Dort wird sie teilweise ganz klar begrüßt. Insofern verteidige ich die One-Love-Binde und stehe zu der Entscheidung, weil sie genau das zum Ausdruck bringt, wofür der DFB steht: für eine allumfassende Achtung der Menschenrechte, die unteilbar sind.

Frau Faeser, andere WM-Teilnehmer wie Australien, dessen Nationalspieler in Videobotschaften die Menschenrechtsverletzungen in Katar anprangern, oder Dänemark, das mit komplett schwarzen Trikots protestiert, haben deutliche Zeichen gesetzt. Würden Sie sich das auch noch von der deutschen Mannschaft vor Ort wünschen?

Nancy Faeser: Die One-Love-Binde ist ein deutliches Statement. Ich finde es auch richtig, dass man sich mit dieser Binde gegen jede Diskriminierung stellt. Es geht um den Schutz von homosexuellen und queeren Menschen, aber auch darum, ein Zeichen gegen Rassismus, gegen Antisemitismus und gegen Frauen-Verachtung zu setzen.

Da sind wir wieder beim Iran, in dem es Massenproteste nach dem Tod einer jungen Frau in Polizei-Gewahrsam gibt, da reden wir über Saudi-Arabien, wo Homosexuellen sogar die Todesstrafe droht und Frauen rechtlich und sozial diskriminiert werden, und da reden wir auch über Polen oder Kroatien, wo die LGBTQIA-Community einen schweren Stand hat. Herr Neuendorf, wird es deshalb neben der One-Love-Binde noch andere Menschenrechtsaktionen der Mannschaft in Katar geben?

Bernd Neuendorf: Die Mannschaft hat doch in den vergangenen Monaten immer wieder Zeichen gesetzt in Richtung Katar und in Richtung Menschenrechte.  Das bitte ich zu würdigen. Die Spieler haben sich zweimal mit Menschenrechtsorganisationen – Human Rights Watch und Amnesty International – getroffen. Wir haben einen Menschenrechtskongress auf dem neuen DFB-Campus in Frankfurt durchgeführt, an dem Nationalspieler teilgenommen und über die Situation in Katar diskutiert haben. Ich habe die Mannschaft bei Länderspielen mehrfach begleitet und habe den Eindruck, dass das alles starke Charaktere sind, die sehr bewusst wahrnehmen, was um sie herum passiert. Das sind für mich neben der One-Love-Binde alles wichtige Zeichen, die man zur Kenntnis nehmen sollte. Der Einwand, die Mannschaft konzentriere sich nur auf den Fußball, ist nicht berechtigt. Die deutsche Elf hat im Vorfeld des Turniers beim Thema Menschenrechte sehr verantwortungsvoll gehandelt.

Die von Ihnen erwähnten Zeichen haben aber längst nicht die Durchschlagskraft, die eine Aktion auf der großen Bühne WM im Fokus der Welt-Öffentlichkeit hätte.

Bernd Neuendorf: Ich habe nicht gesagt, dass wir gar keine Aktion machen. Ich will dem aber nicht vorgreifen. Manchmal geschieht das auch spontan. Wir behalten es uns ausdrücklich vor, dass noch Zeichen gesetzt werden.

Hängt eine Aktion also davon ob, ob es trotz aller Sicherheitsgarantien doch zu Menschenrechtsverletzungen in Katar kommt?

Bernd Neuendorf: Wir hoffen, dass die Zusagen, die Frau Ministerin Faeser erhalten hat, greifen und durchgehalten werden. Wir würden dann von Fall zu Fall schauen, ob es möglicherweise doch Vorfälle gibt, auf die wir reagieren müssen als DFB und mit der Mannschaft.

Aus der Politik und dem Sport werden Forderungen nach einem Fernseh-Boykott der WM an die deutschen Fans gestellt. Auch sollen in den Kneipen keine WM-Spiele beim Public Viewing gezeigt werden. Was halten Sie davon?

Nancy Faeser: Das will ich nun wirklich jedem selbst überlassen. Ist die Fußball-Weltmeisterschaft für viele Menschen vor dem Fernseher nicht etwas, was sie auch genießen wollen? Was Fans aus verschiedenen Ländern und Kulturen zusammenbringen kann? Und wenn es ein Sport-Großereignis wie die WM wirklich schafft, Dinge positiv zu verändern, dann ist das etwas sehr Gutes. Ein Fernseh-Boykott bewirkt überhaupt nichts.

Bernd Neuendorf: Ich habe mich grundsätzlich gegen einen Boykott der WM ausgesprochen. Allein unser Besuch in Katar mit Gesprächen auf sportpolitischer und Regierungs-Ebene zeigt, dass es die richtige Entscheidung war. Nur so kann man auf Veränderungen hinwirken. Was einen TV-Boykott betrifft: Das muss jeder für sich selbst entscheiden. Der Fußball entwickelt aber so einen Zauber, dass ich mir vorstellen kann, dass wir alle sagen: Jetzt freuen wir uns auf Deutschland gegen Brasilien. Hoffentlich kommt es dazu.

Was lässt Sie im Rückblick auf die WM in Russland und Olympia in Peking hoffen, dass es in Katar mit den ersten Verbesserungen in Bezug auf Wanderarbeiter und Menschen aus der Community nicht gleich wieder vorbei ist, sobald die WM zu Ende und Katar aus dem Fokus der Weltöffentlichkeit verschwunden ist?

Nancy Faeser: Nach meiner Reise habe ich den Eindruck, dass die maßgeblichen Kräfte im Land diesen Reformprozess voranbringen wollen. Das war in Russland und China an den obersten Stellen nicht der Fall. Das nährt bei mir die Hoffnung, dass es in Katar weitergeht nach der WM. 

Bernd Neuendorf: Das ist auch mein Eindruck. Man spürt in vielen Gesprächen die intrinsische Motivation, das Land zu verändern. Aber es gibt auch konservative Kräfte, deshalb ist es wichtig, nach der WM nicht zu sagen: ‚Die Karawane zieht weiter‘. Politik und DFB müssen weiter genau hinschauen, wie sich Katar und der Fußball in Katar entwickeln.

Wichtig ist Ihnen beiden, dass bei der künftigen Vergabe von Sport-Großveranstaltungen die Menschenrechte in den Bewerber-Ländern eine entscheidende Rolle spielen. Scheidet vor diesem Hintergrund die Türkei, die ihre Bewerbung für die Europameisterschaften 2028 und 2032 angekündigt hat, unter dem Despoten Recep Tayip Erdogan schon vor der Vergabe durch die UEFA im Herbst 2023 aus?

Nancy Faeser: Mir ist wichtig, dass die Kriterien eingehalten werden, und als ganz entscheidendes: die Menschenrechte. Das muss für jedes Land gelten, ohne Ausnahme.

Die WM 2026 ist vergeben, bei der Vergabe der Europameisterschaften 2028 und 2032 durch die Uefa im Herbst 2023 können solche Fehler verhindert werden.

Nancy Faeser: Die Forderung, dass bei zukünftigen Vergaben von Sport-Großereignissen die Menschenrechte ausschlaggebend sein sollen, richtet sich natürlich an diejenigen, die die nächsten Veranstaltungen vergeben.

Erfüllt die Türkei die Menschenrechts-Kriterien?

Nancy Faeser: Ich bin sicher: Darum wird es eine große Debatte geben – und solche Debatten zwingen zu Veränderungen.

Vergeben wird die EM vom Uefa-Exekutivkomitee, für das Borussia Dortmunds Geschäftsführer Hans-Joachim Watzke im Frühjahr 2023 kandidiert. Herr Neuendorf, würde sich Ihr Stellvertreter im DFB-Präsidium dann klar gegen die Türkei positionieren?

Bernd Neuendorf: Es gibt neben der Türkei weitere ­– schon verbindliche – Bewerbungen: für 2028 vom Vereinigten Königreich plus Irland. Und für 2032 von Italien. Ich bin ganz sicher, dass das neue UEFA-Exekutivkomitee sehr verantwortungsvoll mit dem Thema Menschenrechte umgeht. Wir haben die Möglichkeit, uns vor den beiden Turnieren mit der Situation in den Bewerberländern zu befassen, und ich gehe fest davon aus, dass das auch der Fall sein wird.