Brauchen wir wieder Atomschutzbunker, Frau Faeser?

Typ: Interview , Datum: 18.03.2022

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) spricht über die Folgen von Putins Angriffskrieg für Deutschland, die Verteilung ukrainischer Flüchtlinge und Gegenmaßnahmen bei Cyberangriffen.

Der Spiegel

SPIEGEL: Frau Faeser, wissen Sie, wie viele Ukraine-Vertriebene bislang nach Deutschland gekommen sind?

Faeser: Wir haben eine ziemlich präzise Erfassung durch die Bundespolizei, die in den Zügen und Bussen nach Deutschland Passkontrollen durchführt. Wir gehen Stand heute von 200.000 Geflüchteten aus.

Die wahre Zahl liegt vermutlich deutlich höher, weil die Menschen auch mit Autos oder auf anderen Wegen ankommen.

In den ersten Tagen sind Menschen noch mit ihren privaten Autos geflüchtet, aber das scheint weitgehend aufgehört zu haben. Davon konnte ich mir an der polnisch-ukrainischen Grenze selbst ein Bild machen, wo Frauen und Kinder zu Fuß über die Grenze kamen. Was wir nicht genau wissen, ist, wie viele Geflüchtete in Deutschland bleiben. Viele reisen auch weiter, etwa nach Italien oder Spanien, wo es große ukrainische Communitys gibt.

Warum führen Sie keine festen Grenzkontrollen ein, wie manche Polizeigewerkschafter es fordern?

Es kommen vor allem Frauen und Kinder. Sie fliehen aus dem Bombenhagel in der Ukraine und sind schwer traumatisiert. Mitunter mussten sie schon stunden- oder tagelang in der Kälte ausharren. Ich will nicht, dass sie an den deutschen Grenzen kampieren müssen, schon gar nicht jetzt im Winter. Sie sind in großer Not. Sie brauchen schnell unsere Hilfe.

Bei der Verteilung der Geflüchteten innerhalb Deutschlands geht es drunter und drüber. Dachten Sie, das wird sich von allein regeln?

Nein. Es ging auch nie drunter und drüber. Wir haben uns von Anfang an mit den Ländern eng abgestimmt, Tag und Nacht. Es hat sich schnell gezeigt, dass in Städten wie Berlin sehr viele Geflüchtete ankamen. Deshalb hat der Bund Züge und Busse eingesetzt, um die Menschen auch in andere Städte zu bringen, etwa über einen Verteilknoten in Hannover. Das ging so lange gut, wie die Bundesländer uns freiwillig genügend freie Unterkünfte gemeldet haben. Das war in der vergangenen Woche nicht mehr der Fall, sodass wir uns entschieden haben, die Menschen jetzt nach einer festen Quote innerhalb Deutschlands zu verteilen, dem sogenannten Königsteiner Schlüssel.

Ohne die Ehrenamtlichen, die den Menschen am Berliner Hauptbahnhof helfen oder ihnen spontan ein Dach über dem Kopf anbieten, wäre die Lage nicht zu bewältigen.

Die Ehrenamtlichen dort wie überall im Land zeigen eine unglaubliche Hilfsbereitschaft, Menschlichkeit und Solidarität. Aber auch die Länder haben alles dafür getan, dass den Menschen eine Unterkunft zur Verfügung gestellt wurde. Die Lage war anfangs schwierig, weil die Geflüchteten vor allem in den Großstädten angekommen sind. Nicht nur in Berlin übrigens, sondern auch in Hamburg, München, Köln oder Bremen. Es geht nun darum, die Geflüchteten so gerecht wie möglich zu verteilen, auch auf die vielen kleineren Kommunen in Deutschland, die schon 2015 Großartiges geleistet haben. Wovon ich gar nichts halte, ist, wenn man in Krisen- und Kriegszeiten gegenseitig mit dem Finger aufeinander zeigt. Jeder muss jetzt seinen Beitrag leisten. Anpacken, nicht meckern, lautet da mein Motto.

Haben Sie Ausmaß und Tempo der Fluchtbewegung unterschätzt?

Nein. Vor drei Wochen hätte doch kaum einer geglaubt, dass Wladimir Putin mitten in Europa einen Angriffskrieg auf die gesamte Ukraine beginnt. Er lässt Städte und zivile Gebäude bombardieren, russische Truppen rücken nun von mehreren Seiten vehement auf die Hauptstadt Kyjiw vor. Niemand konnte am ersten Tag voraussehen, wie schlimm dieser Krieg wird. Das gilt auch für den weiteren Verlauf: Niemand hat eine Glaskugel und weiß, was noch auf uns zukommt. Daher halten wir uns auch mit Prognosen zurück, sondern betrachten permanent realistisch die aktuelle Lage.

Die Europäische Union hat für die ukrainischen Flüchtlinge erstmals die sogenannte Massenzustrom-Richtlinie aktiviert, damit sie schnell ein Aufenthaltsrecht bekommen.

Damit haben wir einen historischen Schulterschluss erreicht, der bis vor Kurzem undenkbar war. Die Entscheidung bedeutet, dass alle EU-Staaten solidarisch handeln und Geflüchtete aufnehmen.

Bisher trägt Polen die Hauptlast. Wo bleibt die Solidarität der anderen?

Polen hat fast zwei Millionen Menschen aufgenommen und leistet gerade Herausragendes. Wie auch andere Nachbarstaaten der Ukraine. Diese Länder müssen nun entlastet werden. Wir leisten dazu einen großen Beitrag. Das Ziel muss eine Verteilung der Ukraine-Geflüchteten innerhalb Europas nach festen Quoten sein. Darauf arbeite ich mit Außenministerin Annalena Baerbock und Verkehrsminister Volker Wissing hin. Es wäre auch gut, wenn es international eine große Bereitschaft gäbe, Geflüchtete aufzunehmen, etwa seitens der USA, Kanadas oder Japans.

Haben Sie Sorge, dass der Ukrainekrieg sich auch auf die innere Sicherheit in Deutschland auswirkt?

Die Sicherheitsbehörden haben das sehr genau im Blick. Und natürlich machen wir uns auch Sorgen darüber, was der Krieg für Menschen mit russischen oder ukrainischen Wurzeln in Deutschland bedeutet.

In Krefeld brannte das Auto einer ukrainischen Flüchtlingsfamilie, in Berlin wurde offenbar ein Brandanschlag auf eine deutsch-russische Schule verübt.

Es ist Putins Angriffskrieg, es ist nicht der Krieg aller Russen. Deshalb darf dieser Konflikt auch nicht stellvertretend in Deutschland gegen unschuldige Menschen mit russischen Wurzeln ausgetragen werden. Über soziale Netzwerke wird das Narrativ gesteuert, in Deutschland seien alle russlandfeindlich. Das sind organisierte Desinformationskampagnen. Dieser Krieg ist auch ein Informationskrieg. Wir beobachten das sehr genau und halten mit den Fakten dagegen.

Fürchten Sie Hackerattacken aus Russland gegen Deutschland, als Vergeltung für die Sanktionen und Waffenlieferungen an die Ukraine?

Die Gefahr ist hoch. Wir sehen vor allem starke Cyberaktivitäten Russlands gegenüber der Ukraine. Diese können Auswirkungen auf Systeme außerhalb der Ukraine haben. Und natürlich haben wir auch die Sorge, dass Attacken gegen deutsche Infrastruktureinrichtungen erfolgen könnten. Deshalb haben wir alle Schutzmaßnahmen deutlich erhöht. Im Cyberabwehrzentrum laufen alle Informationen der Sicherheitsbehörden zusammen. Mit den Betreibern kritischer Infrastrukturen sind wir in sehr engem Kontakt, um größtmöglichen Schutz zu gewährleisten.

Die Bundeswehr soll nun mit 100 Milliarden Euro massiv ausgerüstet werden, Kanzler Olaf Scholz sprach von einer »Zeitenwende«. Muss Deutschland auch bei der Cyberabwehr nachrüsten?

Äußere und innere Sicherheit gehören zusammen. Damit müssen wir uns unter dem Eindruck dieser russischen Aggression beschäftigen. Wir werden die deutsche Cybersicherheitsarchitektur weiter stärken.

Brauchen deutsche Behörden im Notfall das Recht zum offensiven Cybergegenschlag, auch »Hackback« genannt, um die Computer eines Angreifers lahmzulegen?

Wir müssen stärker über Gegenmaßnahmen bei Cyberangriffen nachdenken. Wir brauchen vor allem gezielte Maßnahmen, um Täter im Ausland zu identifizieren und Attacken zu verhindern. Aktive Maßnahmen der Cyberabwehr wären ein Eingriff in IT-Systeme anderer Staaten. Das wäre ein weitreichender Schritt, über dessen Für und Wider wir diskutieren müssen.

Im Koalitionsvertrag wird der Hackback grundsätzlich ausgeschlossen.

Ja, aber das war vor Beginn des Kriegs am 24. Februar. Wir sind insgesamt gut beraten, Fragen unserer Sicherheit nicht ideologisch, sondern realistisch zu betrachten.

Braucht Deutschland auch wieder Atomschutzbunker?

Wir alle dachten lange, dass wir die nach dem Kalten Krieg nicht mehr brauchen. Aber jetzt ist leider auch das eine Frage, mit der wir uns befassen müssen. Wir prüfen gerade zusammen mit den Ländern die vorhandenen Schutzräume. Der Rückbau ist gestoppt.