"Wir müssen empathischer mit den Menschen umgehen"

Typ: Interview , Datum: 20.02.2022

Innenministerin Nancy Faeser hat Rechtsextremisten den Kampf angesagt. Dazu gehört für sie auch, den Opfern anders zu begegnen.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung

Frau Ministerin, Sie haben kürzlich gesagt, der rechtsterroristische Anschlag von Hanau, der sich nun zum zweiten Mal jährt, sei das Schlimmste, was Sie je erlebt hätten. Wie erinnern Sie sich an jenen Tag?

Ich hatte frühmorgens erfahren, was in der Nacht passiert war, und war zutiefst schockiert. Dann machte ich mich auf den Weg in den Hessischen Landtag, wo wir eigentlich Landtagssitzung gehabt hätten. Doch schon auf dem Weg dorthin habe ich mit den anderen Fraktionsvorsitzenden telefoniert und gesagt, dass wir doch nicht so tun könnten, als wäre in Hanau nichts passiert. Und dann haben wir, gemeinsam mit dem Landtagspräsidenten, entschieden, die Sitzung ausfallen zu lassen. Später am Tag war ich gemeinsam mit dem Bundespräsidenten vor Ort. Wir besuchten die Tatorte. Die waren noch abgesperrt. Das war furchtbar.

Was haben Sie für Schlüsse gezogen?

Ich war sehr bald auch bei den Familien der Opfer zu Besuch. Das ging mir sehr nahe. Darum hat es mich auch so erschüttert, wie bürokratisch der Umgang der Behörden mit diesem furchtbaren rechtsterroristischen Akt war. Ich habe für mich selbst den Schluss gezogen, dass ich, wenn ich jemals Verantwortung trage, empathischer mit den Menschen umgehen muss. Auch indem ich an die Opfer des Hanauer Anschlags erinnere, an Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Said Nesar Hashemi, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtovic, Vili Viorel Paun, Fatih Saraçoglu, Ferhat Unvar und Kaloyan Velkov. Es gab zum Glück auch tolle Leute, die damals mit Empathie auffielen, unter anderem ein Mitarbeiter der Stadtverwaltung, Herr Jäger, der die Familien bis heute betreut.

Auch die Hinterbliebenen der Opfer des islamistischen Terroranschlags vom Berliner Breitscheidplatz beklagten später mangelnde Empathie. Warum sprechen Sie vom Hanauer Anschlag als dem "Schlimmsten" für Sie?

Ich will das nicht gegeneinanderstellen. Wie auch? Das islamistische Attentat auf dem Breitscheidplatz war genauso schlimm, genauso menschenverachtend. Das besonders Schlimme in Hanau war, dass der Täter gezielt Menschen aufgrund ihrer Herkunft ermordet hat. Und Hanau ist mir deshalb so nahe gegangen, weil ich die Angehörigen kennengelernt habe. Das wäre mir bei den Angehörigen der Opfer des Berliner Anschlags sicher genauso gegangen.

Die Bundesregierung hat nun den 11. März als nationalen Gedenktag für Opfer terroristischer Gewalt eingeführt. Ist das nicht pure Symbolpolitik? Die allermeisten Deutschen sind sich doch einig darin,terroristische Gewalt zu verabscheuen.

Ich glaube, dass es für die Angehörigen der Opfer sehr wichtig ist, zu sehen, dass der Staat sie nicht vergisst. Und nach dem Anschlag von Hanau haben sich sehr viele Menschen, die eine Migrationsgeschichte haben, tief verletzt und ausgegrenzt gefühlt. Spaltung und Angst zu verbreiten, das war die Absicht des Täters. Die Opfer waren keine Fremden, sie waren Hanauerinnen und Hanauer.

Die Familien der Opfer in Hanau berichten, dass die Polizei kurz nach der Tat bei ihnen auftauchte und sie warnte: Sie sollten nicht Rache nehmen - so als seien sie Gefährder und nicht Opfer. Gibt es ein Problem bei der Polizei?

Ich bin der Überzeugung, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Polizeibeamten einen tollen Job macht und auch Empathie zeigt. Für die Beamtinnen und Beamten vor Ort war der Anschlag auch sehr schlimm, und da können Fehler passieren. Aber es ist wichtig, daraus zu lernen und anschließend das Gespräch mit den Betroffenen zu suchen. Das ist zu wenig passiert.

Just an dem Tag, an dem sich der Anschlag von Hanau ereignete, wurde damals das Waffenrecht verschärft. Was wiederum eine Reaktion auf den Anschlag von Halle war. Der Bundestag lief also den Ereignissen hinterher und wurde dabei überholt. Wie lässt sich dieser Kreislauf aus Betroffenheit, dem Ruf nach entschlossenerem Kampf und dem nächsten Anschlag durchbrechen?

Wir gehen den Kampf grundsätzlicher an, als das bisher geschehen ist. Wir müssen rechtsextreme Netzwerke zerschlagen. Wir müssen frühzeitig und intensiv ermitteln, wo solche Netzwerke geknüpft werden, gerade auch im Internet. Wir haben ja gesehen, dass sowohl der Täter von Halle als auch der von Hanau sich im Netz radikalisiert haben. Der Rechtsstaat darf Mordaufrufe und Bedrohungen nicht hinnehmen. Diesen Nährboden der Gewalt bekämpfen wir jetzt entschieden. Aber der Kampf gegen Rechtsextremismus fängt noch viel früher an, nämlich mit guter Bildungsarbeit. Er muss schon im Kindergarten ansetzen.

Im Kindergarten?

Ja. Wir müssen Kinder und Jugendliche so stark machen, dass sie für Ideologien der Ausgrenzung gar nicht erst anfällig werden. Das kann man ja sehr spielerisch machen. Wir brauchen eine Demokratieerziehung, die klarmacht, dass es egal ist, wo eine Familie irgendwann einmal hergekommen ist, welche Hautfarbe jemand hat, an wen er glaubt oder wen er liebt.

Die Erkenntnis ist nicht neu, dass man es mit Netzwerken zu tun hat. Deshalb hat der Verfassungsschutz seine Abteilung Rechtsextremismus neu aufgestellt. Was das Netz betrifft, weiß man ja über vieles, was sich da abspielt, auch schlichtweg nichts. Brauchen die Behörden mehr rechtliche Möglichkeiten?

Im Moment geht es vor allem um die Durchsetzung des Rechts. Es gibt ein Vollzugsdefizit. Das hat sich bei Telegram sehr stark gezeigt. Wir haben mit dem Netzwerkdurchsetzungsgesetz eine gesetzliche Grundlage geschaffen, um das Recht in den sozialen Netzwerken besser durchsetzen zu können. Und da müssen wir jetzt sehr genau schauen, ob das funktioniert. Deshalb bin ich im engen Austausch mit dem Justizminister, um die Sache jetzt richtig anzupacken. Wir brauchen feste Ansprechpartner von den digitalen Plattformen, damit wir Recht durchsetzen können.

Und die anderen Instrumente wollen Sie jetzt erst mal nicht anpacken, also etwa die Forderung des Verfassungsschutzes aus der vergangenen Legislatur, dass die Onlinedurchsuchung notwendig sei?

Wir brauchen jetzt keine ideologischen Debatten, sondern müssen ganz pragmatisch schauen: Was haben wir, was funktioniert, und was brauchen wir noch, um dieses Problem bei der Wurzel zu packen. Denn darum muss es gehen.

Sie wollen bis Ostern einen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus vorlegen. Auch die vorige Regierung hatte einen Plan gemacht, mit 89 Maßnahmen. Was ist an Ihrem neu?

Neu ist, nicht nur über das Phänomen zu reden, sondern konsequent zu handeln. Ich möchte, dass wir aus meinem Hause heraus, aus dem Bundesinnenministerium, diese Maßnahmen aufsetzen. Schnell und effektiv. Ein Beispiel ist, dass ich dafür sorgen will, dass Rechtsextremisten schneller aus dem öffentlichen Dienst entfernt werden können.

Also eine Reform des Disziplinarrechts.

Genau, oder des Beamtengesetzes. Für mich ist zum Beispiel nicht zu verstehen, warum die Anforderungen an die Verfassungstreue für jemanden, der sein Beamtenverhältnis ruhen lässt, niedriger ist als für jemanden, der in Pension ist.

Sie spielen auf den Fall von Jens Maier an, dem vom Verfassungsschutz als Rechtsextremist eingestuften AfD-Politiker, der nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag nun als Richter in die sächsische Justiz zurückkehren will.

Es gibt prominente Fälle. Ich finde auch den Gedanken unerträglich, dass ein Rechtsextremist irgendwann wieder als Geschichtslehrer arbeiten könnte.

Das Problem ist ja: Nach dem Abgeordnetengesetz müssen sich Richter und Beamte während ihrer Zeit als Mandatsträger nicht an das Mäßigungsgebot halten.

Unsere Demokratie muss wehrhaft sein. Ich möchte im Disziplinar- und Beamtenrecht alles dafür tun, dass wir solche Fälle einfacher handhaben können. Und die prominenten Fälle zeigen, dass das dringend nötig ist.

Welche Zielmarken setzen Sie sich, an denen man Ihren Erfolg wird messen können? Es gibt derzeit 14 000 gewaltbereite Neonazis. Wollen Sie die Zahl halbieren?

Rechtsextremismus ist kein statistisches Problem. Die Zahl kann bald sogar höher sein, weil wir mehr aufgedeckt haben. Das ist ein wichtiger Punkt: Wir müssen die Netzwerke sichtbar machen. Wo sind die Rechtsextremisten aktiv? Wo gibt es Verbindungen ins Ausland? Sind vermeintlich harmlose Zusammentreffen in Wahrheit Planungen für Gewalttaten? Ich möchte mich daran messen lassen, ob ich etwas bewirkt habe.

Und was wollen Sie gegen die Ursachen für diese Menschenverachtung tun?

Wir brauchen einen ganzheitlichen präventiven Ansatz, um Extremismus zu verhindern. Dazu gehört auch gute Sozialpolitik. Da bin ich Sozialdemokratin durch und durch. Ein Meilenstein ist der gesetzliche Mindestlohn. Mein Haus arbeitet auch daran, gleichwertige Lebensverhältnisse zu schaffen. Es ist ja ein Unterschied, ob jemand in einem Umfeld aufwächst, wo es gute Schulen und Ausbildungsmöglichkeiten gibt oder eben nicht. Wer kümmert sich um die Jugendbetreuung am Nachmittag? Der schlimmste Fall ist ja, dass das Rechtsextreme tun.

Sie haben selbst Drohbriefe vom "NSU 2.0" bekommen. Was hat das mit Ihnen gemacht?

Ich selbst kann das ganz gut wegschieben und nicht drüber nachdenken. Für die Familie ist es nicht schön, wenn die Polizei kommt und den Briefkasten durchsucht. Das löst schon ein Unsicherheitsgefühl aus. Dem muss man sich aber entgegenstellen und sagen: Jetzt erst recht. Das ist auch meine Einstellung. Ich lasse mich nicht einschüchtern.

Sie sagten diese Woche im Bundestag, die Abgeordneten müssten sich daran gewöhnen, dass an der Spitze des Bundesinnenministeriums jetzt eine Frau mit einer klaren Haltung stehe. Was wollten Sie damit sagen? Dass Ihr Vorgänger Seehofer keine klare Haltung hatte?

Das war eine Beschreibung meiner Person. Ich habe eine sehr klare Haltung. Die habe ich übrigens nicht nur gegenüber dem Rechtsextremismus und der AfD bewiesen, sondern auch gegenüber dem Linksextremismus, etwa als ich mich bei den gewaltsamen Übergriffen auf Polizeibeamte im Dannenröder Forst in Hessen ganz klar hinter die Polizei gestellt habe.

Apropos: Sie haben als hessische Oppositionspolitikerin einen Gastbeitrag über den Kampf gegen Rechtsextremismus für eine Publikation der "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" (VVN) geschrieben, den der Verfassungsschutz als linksextrem beeinflusst einstuft. Warum haben Sie sich als Bundesinnenministerin nicht von dem Verein distanziert?

Ich habe eine klare Haltung gegen Rechtsextremismus und gegen Linksextremismus. Für mich war in dem Moment wichtig, mich nicht von der "Jungen Freiheit" und anderen treiben zu lassen. Wenn man eine Überzeugung hat, sollte man auch dazu stehen.

Hatten Sie den Eindruck, Sie waren Opfer einer Kampagne?

Opfer nein, aber eine Kampagne gab es schon.

Inwiefern?

Insofern, als es ein durchsichtiger Versuch war, mich und meine Anliegen in Verruf zu bringen.

Aber der Sachverhalt entspricht doch der Wahrheit.

Es geht ja nicht um etwas, was ich im Amt der Bundesinnenministerin gemacht habe. Es gibt zur "Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes" sehr unterschiedliche Einschätzungen. Der hessische Finanzminister von der CDU hat gerade selbst zusammen mit dem VVN als Erstunterzeichner einen Aufruf gegen rechte Hetze unterschrieben.

Jedenfalls nimmt das extremistische Potential der Vereinigung offenbar ab. Wenn der Verfassungsschutz die Beobachtung nun beendet, könnte man denken, dass Sie da Einfluss genommen hätten.

Es ist allein Sache der Fachbehörden, Bewertungen vorzunehmen. Das finde ich ganz wichtig.

Im Mai wollen Sie sich als SPD-Landesvorsitzende wiederwählen lassen. Schaffen Sie das neben dem Amt als Innenministerin?

Angela Merkel war sogar Bundeskanzlerin und CDU-Bundesvorsitzende. Ich bin jetzt seit zweieinhalb Jahren Landesvorsitzende. Und ich habe in der Funktion einiges vor, was ich umsetzen möchte. Diese Arbeit würde ich gerne fortsetzen.

Auf Ihrem Schreibtisch steht als kleine Skulptur der Schriftzug "Hessen". 2023 wird dort der nächste Landtag gewählt. Ist das Bundesinnenministerium nur Ihr Sprungbrett in die Hessische Staatskanzlei?

Hessen ist meine Heimat, aber diese Frage stellt sich jetzt nicht.

Sie haben jetzt die Möglichkeit, die Gerüchte über Ihre angeblichen Rückkehrwünsche nach Hessen zu dementieren und zu sagen: Nein, ich bin Bundesinnenministerin und ich schließe das aus.

Mein früherer Kollege Tarek Al-Wazir hat den wunderbaren Begriff der "Ausschließeritis" erfunden. Die Menschen interessieren sich dafür, dass ich meine Arbeit mache - und das tue ich jeden Tag mit ganzer Kraft.