"Ich lasse mich nicht einschüchtern"
Interview 20.01.2022
Was die Bundesinnenministerin gegen Hass und Gewalt auf den Straßen und im Netz tun will, warum sie den Verfassungsschutz stärker kontrollieren möchte – und worin sie sich von ihrem Vorgänger unterscheidetInnere Sicherheit 16 Jahre war das Bundesinnenministerium in der Hand der Union, nun führt es die hessische SPD-Politikerin Nancy Faeser. Sie startet in einer schwierigen Zeit: Corona-Demos eskalieren, Politiker werden bedroht und Polizisten angegriffen, während sich im Schatten der Pandemie Staatsfeinde in digitalen Kanälen gegenseitig aufhetzen. Wie sehen ihre Pläne aus?
Süddeutsche Zeitung
VON MARKUS BALSER UND CONSTANZE VON BULLION
Als der CDU-Politiker Walter Lübcke 2019 ermordet wurde, drängte Nancy Faeser auf Aufklärung. Als 2021 rechtsextremistische Chats bei der hessischen Polizei bekannt wurden, warnte die damalige SPD-Chefin in Hessen vor Verharmlosung. Dann bekam sie Drohschreiben mit dem Absender "NSU 2.0". Jetzt ist die 51-jährige Juristin Bundesinnenministerin – und will sich mit Hetzern im Internet anlegen, aber auch die Sicherheitsbehörden stärker kontrollieren.
SZ: Ihr Vorvorgänger Thomas de Maizière schlief keine Nacht ohne laut gestelltes Handy. Horst Seehofer nannte den Job des Bundesinnenministers mal „erbarmungslos“. Warum tun Sie sich das an?
Nancy Faeser: Ich bin eine sehr leidenschaftliche Innenpolitikerin. Ich habe mich 15 Jahre mit diesen Themen befasst, und ich freue mich sehr, gerade in diesem Bereich nun Verantwortung zu tragen. Das empfinde ich als großes Privileg.
Sie starten in einer schwierigen Zeit. Corona-Demos eskalieren, es gibt Angriffe auf Polizisten. Weicht der Staat zurück?
Wir weichen nicht zurück. Wir lassen unsere Sicherheitsbehörden sehr stark auftreten. Wir halten sehr viele Polizistinnen und Polizisten auf der Straße, auch in diesen schweren Tagen der Corona-Pandemie. Die Polizei ist jederzeit einsatz- und handlungsfähig. Es ist aber auch eine sehr schwere Belastungssituation. Das ist oft auch eine Zumutung für die Polizeibeamtinnen und -beamten. In Telegram-Chats werden Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens, medizinisches Personal und Presseleute bedroht. Der Rechtsstaat wirkt in den dunklen Ecken des Netzes hilflos. Wir handeln, um die Eskalation von Hass und Gewalt zu stoppen. Nach heutigem Recht müssen strafbare Inhalte binnen 24 Stunden gelöscht werden, ab Februar müssen etwa Morddrohungen dem Bundeskriminalamt gemeldet werden. Das werden wir durchsetzen. Es sind furchtbare Dinge im Netz unterwegs, und die müssen weg. Es gab Morddrohungen gegen Ministerpräsidentin Manuela Schwesig oder ihren sächsischen Amtskollegen Michael Kretschmer. Flugblätter mit Mordaufrufen würde man ja auch wegnehmen und vernichten. Genauso muss das mit einer Website sein.
Aber sie kursieren im Netz weiter. Warum dulden Sie das?
Wir dulden das nicht. Wir schöpfen alle rechtlichen Möglichkeiten aus. Wir sind dran an den App-Betreibern Google und Apple. Denn sie haben eine Verantwortung dafür, wenn Brandbeschleuniger für Hass und Gewalt in ihren App-Stores angeboten werden. Wir werden alles daransetzen, dass solche Drohungen bei uns nicht mehr ungestraft verbreitet werden können und das gesellschaftliche Klima vergiften. Jeder muss merken, dass der Rechtsstaat nicht zurückweicht. Aber wir können Telegram auch nicht einfach so abschalten. Die Plattform bietet Oppositionellen in autoritären Staaten eine Möglichkeit der Absprache. Das ist die Kehrseite dieser Dienste.
Die Corona-Proteste werden von Rechtsextremisten angefacht. Könnte sich aus dieser Lage Terror entwickeln?
Ich nehme diese Gefahr sehr, sehr ernst, die Sicherheitsbehörden sind äußerst wachsam.
Behörden sehen auch die AfD als Treiber der Radikalisierung. Sollte der Verfassungsschutz die gesamte AfD als rechtsextremen Verdachtsfall beobachten?
Parteien genießen aus gutem Grund einen hohen Schutz durch das Grundgesetz. Aber der Staat muss auch handlungsfähig bleiben. Im Fall der AfD ist nicht zu übersehen, dass dort immer wieder mit rechtsextremistischen Organisationen zusammengearbeitet wird. Wenn Sie sehen, wie eng das verknüpft ist, sind das Unterstützungshandlungen. Aber natürlich haben wir uns an das zu halten, was demnächst ein Gericht entscheidet.
Sie planen einen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus. Was soll da denn drinstehen?
Wir werden zum Beispiel Extremisten schneller aus dem öffentlichen Dienst entfernen. Es ist unerträglich, wie lange in solchen Fällen Disziplinarverfahren dauern. Ich will das beschleunigen. Das trifft auch auf Menschen mit extremistischer Gesinnung zu, die ihr Beamtenverhältnis ruhen lassen. Da muss es Handlungsmöglichkeiten geben. Es kann etwa nicht sein, dass ein Faschist, der offen zur Bekämpfung des Staates aufruft, immer noch Lehrer ist. Das kann der Staat nicht dulden.
Rechtsextremismus gibt es auch bei der Polizei. Ihr Vorgänger hat eine Studie dazu abgelehnt. Bleibt es dabei?
Ich finde eine solche Studie richtig. Horst Seehofer hat eine andere Studie in Auftrag gegeben. Ich gehe davon aus, dass sie die staatsbürgerliche Haltung bei der Polizei mitbeleuchtet. Wenn das nicht der Fall ist, werde ich eine neue Studie in Auftrag geben. Wir müssen ja auch die 99,9 Prozent der Polizistinnen und Polizisten schützen, die jeden Tag ganz entschieden für unsere Demokratie eintreten und unsere offene Gesellschaft verteidigen.
Welche Fragen würden Sie in der Studie stellen?
Warum sind Polizisten in rechtsextremistischen Chats unterwegs? Wie kommt so eine Einstellung zustande, obwohl zur Ausbildung Demokratieerziehung und Abgrenzung von Rassismus gehören? Wo fängt Rassismus an?
Gibt es bei der Polizei Ethnic Profiling, Kontrollen nur wegen des Aussehens?
Das darf es nicht geben.
Das beantwortet die Frage nicht.
Es gibt sehr unterschiedliche Realitäten der Polizeiarbeit. Die einen arbeiten an beschaulichen Orten, an denen jeder jeden kennt, egal welcher Herkunft er ist. Es gibt aber auch Polizeibeamtinnen und -beamte, die Tag für Tag in Großstädten in sehr schwierigem Umfeld arbeiten, etwa am Frankfurter Hauptbahnhof. Da führen einseitige Erfahrungen vielleicht zu falschen Schlüssen. Deswegen bin ich dafür, dass da stärker rotiert wird. Man muss den Beamten auch Supervision anbieten.
Bundespolizeipräsident Dieter Romann galt als Seehofers Sherpa und Wegweiser bei der Konzipierung einer harten Migrationspolitik. Wie sehen Sie das?
Ich werde Behördenleitern sicher keine öffentlichen Zeugnisse ausstellen. Ich bin immer gut damit gefahren, mir ein eigenes Bild zu machen und dann Entscheidungen zu treffen.
Was halten Sie von Verfassungsschutzpräsident Thomas Haldenwang?
Ich habe bisher einen guten Eindruck von Herrn Haldenwang gewonnen.
Vertrauen Sie denn dem Verfassungsschutz?
Mit grenzenlosem Vertrauen bin ich immer sehr vorsichtig. Klar ist: Wir brauchen gut aufgestellte Verfassungsschutzbehörden. Denn wir haben eine neue Qualität der Gewalt auf den Straßen und des Hasses im Netz. Ich würde mehr Kontrolle nach den Erfahrungen mit dem NSU begrüßen. Niedersachsen hat im Landesamt für Verfassungsschutz nicht nur Leitungspersonal ausgetauscht, sondern auch nach der inneren Einstellung in der Behörde gefragt und die notwendigen Veränderungen herbeigeführt. Die Behörde ist vom Kopf auf die Füße gestellt worden. Ähnlich war es in Thüringen. Wenn man sagt, man verändert von Grund auf, kann das etwas sehr Gutes werden. Ich habe auch nie verstanden, warum der Polizeibereich sehr stark rechtsstaatlich kontrolliert war und der Verfassungsschutzbereich nicht, obwohl man sich da im Vorfeld von Kriminalität befindet. Da muss man doch eigentlich besonders sorgfältig draufschauen.
Sie haben sich intensiv mit der Ermordung des CDU-Politikers Walter Lübcke befasst und wurden selbst bedroht. Was bedeutet das für Sie persönlich?
Ich lasse mich nicht einschüchtern. Aber ich gewöhne mich auch nicht an Bedrohungen. Mir geht es vor allem darum, all den kommunalpolitisch Aktiven und anderen Engagierten den Rücken zu stärken, die solchen Drohungen in ihren Orten ganz unmittelbar ausgesetzt sind.
Sie betonen Gefahren von rechts. Wie gefährlich ist Linksextremismus?
Die Gewaltbereitschaft wächst auch im Linksextremismus. In Hessen habe ich das ja beim Streit um den Weiterbau der A49 durch den Dannenröder Forst erlebt. Es gab üble Übergriffe auf die Polizei, und ich habe das sehr deutlich verurteilt. Auch dagegen muss der Staat entschlossen vorgehen.
Wie bewerten Sie die islamistische Terrorgefahr?
Ich mache mir große Sorgen. Die Instabilität von Ländern wie Afghanistan erhöht die Risiken und kann Rückzugsräume schaffen. Wir müssen sehr wachsam sein. Mich alarmiert das Terrorrisiko im Inland. In den nächsten Jahren werden wir die ersten Islamisten nach dem Verbüßen ihrer Freiheitsstrafe aus der Haft entlassen. Wir müssen jetzt dringend klären: Wie gefährlich sind sie noch für die Gesellschaft?
Horst Seehofer war der Meinung, der Islam gehöre nicht zu Deutschland. Wie sehen Sie das?
Der Islam gehört natürlich zu Deutschland. Er ist seit Jahrzehnten Teil des kulturellen Lebens in Deutschland.
Sie wollen einen neuen Geist in der Migrationspolitik. Was heißt das?
Wir sind ein Einwanderungsland. Und wir wollen endlich ein gutes Integrationsland werden. Wir wollen Menschen, die die deutsche Staatsbürgerschaft annehmen, willkommen heißen. Wir müssen die Arbeitsmigration erleichtern. Auf der anderen Seite wollen wir aber auch Rückführungen und freiwillige Ausreise derjenigen forcieren, die nicht bleiben können. Wir schauen nicht länger zu, wie Menschen ertrinken. Wir werden legale Fluchtwege schaffen. Humanität und Realismus gehören für mich zusammen.
Vieles wollten Ihre Vorgänger auch, aber haben es nicht geschafft. Warum soll es jetzt gelingen?
Weil ich mich des Themas wirklich annehme. Ich bin fünf Wochen im Amt, und es gibt nach dem ersten Austausch mit Frankreich bereits erste Fortschritte auf dem nicht ganz einfachen Weg zu einem gemeinsamen Asylsystem und bei der Verteilung von Flüchtlingen in der EU. Deutschland und Frankreich können in einer Koalition der Willigen vorangehen. Ich hoffe, dass Staaten wie Italien oder Spanien dem Weg folgen. Nach ersten Gesprächen bin ich optimistisch.
Die Union wirft Ihnen vor, die illegale Migration nach Deutschland zu fördern.
Es ist erstaunlich, wie schnell sich die Union vom Erbe Angela Merkels abwendet. Billiger Populismus hilft jedenfalls niemandem. Wir werden Italien und Griechenland zusammen mit anderen europäischen Staaten unterstützen, wie bisher auch. Da hat auch nicht die ganze EU Flüchtlinge aufgenommen, sondern nur ein Kreis von Staaten.
Sie wollen Kontingente für Zuwanderung schaffen. Wie groß sollen sie sein?
Klar ist: Wir brauchen Zuwanderung, auf dem Arbeitsmarkt sogar in erheblichem Umfang. Aber bei Kontingenten geht es nicht nur um ein Mehr an Zuwanderung. Ich will Herkunftsstaaten signalisieren: Wenn sie eigene Staatsbürger aus der EU zurücknehmen, schaffen wir im Gegenzug Kontingente für legale Migration in die EU.
Ist es nicht naiv zu glauben, wir könnten Herkunftsländer so ausstatten, dass niemand mehr illegal in die EU kommt?
Natürlich werden wir weiter Migration aus Krisengebieten erleben – und wir werden unserer humanitären Verantwortung gerecht. Aber wir können etwa durch das Erfassen von Identitäten geregeltere Begleitumstände schaffen. Wir müssen wissen, wer kommt und wer schon mal da war. Nur so erkennen wir, wer wirklich Schutz braucht.
Im Koalitionsvertrag steht, wer ohne Pass um Asyl bittet, kann seine Identität auch per eidesstattlicher Erklärung belegen. Ist da Schummelei nicht absehbar?
Nein, denn das darf nur die Ausnahme für Notfälle sein. Die Regel wird eine solche eidesstattliche Erklärung ganz sicher nicht.
Was wollen Sie in vier Jahren unbedingt erreicht haben?
Ich wünsche mir einen Aufbruch und echten Fortschritt für ein offenes, tolerantes und vielfältiges Land. Leider erleben wir gerade eher, dass sich Menschen stark abgrenzen und sich manche von Staat und Demokratie abwenden. Ich will meinen Beitrag dazu leisten, dass wieder mehr gesellschaftlicher Zusammenhalt gelingt.