"Wir dürfen uns nicht von einer radikalen Minderheit einschüchtern lassen."

Typ: Interview , Datum: 17.12.2021

Bundesinnenministerin Faeser über Hetze und Proteste

Spiegel

SPIEGEL: Frau Faeser, wie lange haben Sie heute Morgen gebraucht, um in diesem Labyrinth von Ministerium Ihr Büro zu finden?

Faeser: (lacht) Das geht schon sehr schnell. Würden Sie mich fragen, wie ich in die Fachabteilung X oder Y komme, dann könnte es länger dauern, weil das Haus ja doch sehr groß ist und die Gebäudeflügel alle ähnlich aussehen.

Ihr Vorgänger Horst Seehofer hatte ein Kabuff hier im Ministerium, in dem er immer übernachtete, wenn er in Berlin war. Werden Sie das auch beziehen?

Nein. Ich bin auf Wohnungssuche. Die Details muss ich aber noch mit meiner Familie besprechen. Es ging ja alles etwas schnell.

Hatten Sie nicht damit gerechnet, Bundesinnenministerin zu werden?

Es gab vor Jahren mal Gespräche, ob ich mir vorstellen könnte, irgendwann nach Berlin zu wechseln. Aber der Anruf von Olaf Scholz am Sonntag vor einer Woche kam sehr überraschend.

Im hessischen Landtag waren Sie Fraktionschefin von 29 Abgeordneten. Jetzt leiten Sie ein Ministerium mit 2100 Beschäftigten und 20 nachgeordneten Behörden.

Ich habe natürlich Respekt vor der Aufgabe. Aber ich komme ja ursprünglich aus einer großen internationalen Anwaltskanzlei. Diese Professionalität habe ich auch hier vorgefunden, und das ist sehr angenehm. Das macht mir ordentlich Spaß.

Was haben Sie sich vorgenommen, wofür soll die Innenministerin Nancy Faeser stehen?

Meine Aufgabe ist in erster Linie, die Sicherheit zu organisieren. Sicherheit ist eine Frage sozialer Gerechtigkeit. Denn Sicherheit muss für jeden gewährleistet werden, und zwar egal wie viel Geld er hat oder woher sie oder er kommt. Das ist für mich die oberste Maxime. Zweitens: Es wird darum gehen, jegliche Bedrohung für die Demokratie zu bekämpfen. Und zwar egal von wem sie ausgeht, ob von Rechtsextremisten, Islamisten oder Linksextremisten. Im Moment geht die größte Gefahr eindeutig vom Rechtsextremismus aus. Deswegen steht dessen Bekämpfung bei mir auf der Agenda ganz oben.

Derzeit gehen in vielen Städten Gegner der Coronamaßnahmen auf die Straße. Oft sind die Proteste illegal, manche enden mit Gewalt. Wie soll der Staat damit umgehen?

In vielen Fällen sind Rechtsextremisten unterwegs, die versuchen, eine Krise auszunutzen. Einige sind gewalttätig, es geht ihnen um Krawall und Einschüchterung. Sie verfolgen ihre eigenen Ziele, die überhaupt nichts mit der Pandemie zu tun haben. Gegen diese kleine Gruppe müssen wir mit aller Härte vorgehen, mit jedem Mittel des Rechtsstaates. Da darf man keinen Millimeter weichen. Wir haben ja in Idar-Oberstein gesehen, was passieren kann. Dort wurde ein Tankstellenkassierer erschossen, nur weil er einen Kunden darauf hingewiesen hat, eine Maske zu tragen. In Sachsen laufen Menschen mit Fackeln vor das Haus einer Politikerin, um sie einzuschüchtern. Das darf der Staat in einer offenen Gesellschaft nicht hinnehmen.

Wie viel Protest ist für Sie legitim?

In Deutschland kann jeder auf die Straße gehen und seine Meinung sagen, etwa weil er eine allgemeine Impfpflicht ablehnt. Das muss ein Rechtsstaat gewährleisten. Für mich als Politikerin lohnt sich aber jede Anstrengung, mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und ihnen zu erklären, warum eine Impfpflicht die Pandemie eindämmen kann. Letztlich geht es doch für uns alle gemeinsam darum, dass wir endlich wieder ein Leben ohne Einschränkungen führen können.

Den harten Kern werden Sie kaum überzeugen können. Den dürfte die Einführung einer Impfpflicht weiter radikalisieren.

Wir haben eine Fürsorgepflicht gegenüber allen Menschen in unserem Land. Wenn wir zu der Überzeugung kommen, dass wir ohne diesen Schritt nicht aus der Pandemie herauskommen, dürfen wir uns nicht von einer radikalen Minderheit einschüchtern und davon abhalten lassen. Wir müssen aus Überzeugung und mit Argumenten das tun, was für unsere Gesellschaft am besten ist.

Die Coronaleugner spielen Katz und Maus mit der Polizei. In den sozialen Netzwerken kündigen sie in vielen Orten Demos an. Wo die Lage dann eskaliert, wissen die Behörden vorher nicht. Wie soll der Staat damit umgehen?

Eine zentrale Rolle bei der Mobilisierung spielen im Moment die Chatgruppen bei Telegram. Dort wird offen Hass und Hetze verbreitet. Wir haben ein Gesetz, um hiergegen vorzugehen, das Netzwerkdurchsetzungsgesetz. Aber im Moment müssen wir leider feststellen, dass das Unternehmen sich den rechtlichen Vorgaben entzieht. Hier werden wir den Druck erhöhen. Es kann nicht sein, dass ein App-Betreiber unsere Gesetze ignoriert.

Das klingt schön, aber wie genau machen Sie das?

Drei Punkte: Zum einen sind wir dabei zu prüfen, ob man über Plattformen wie Google oder Apple den Druck erhöhen kann. Diese Unternehmen haben die Telegram-Anwendung in ihren App Stores und könnten sie aus dem Angebot nehmen, wenn Telegram permanent gegen Regeln verstößt. Zweitens könnten wir mit anderen europäischen Staaten auf die Vereinigten Arabischen Emirate zugehen, wo Telegram seinen Sitz hat. Ich habe gerade mit meinem niederländischen Kollegen darüber gesprochen. Die Niederlande stellen sich die gleichen Fragen, dort ist die Gewaltbereitschaft der Impfgegner sehr hoch.

Und drittens?

Das ist für mich als Innenministerin besonders wichtig. Wir müssen den Ermittlungsdruck erhöhen. Es muss für alle klar sein: Wer im Netz Hass und Hetze verbreitet, bekommt es mit der Polizei zu tun. Wir müssen solche Delikte konsequent verfolgen, auf allen Ebenen.

In Sachsen ist gerade eine Gruppe aufgeflogen, die auf Telegram Mordpläne gegen den Ministerpräsidenten geschmiedet haben soll. Entdeckt haben die Gruppe Journalisten, nicht Beamte.

Das bestärkt mich in meiner Überzeugung. Der Fahndungsdruck gegen Extremisten muss in ganz Deutschland gleich hoch sein.

Die Erfahrung zeigt: Wenn der Staat gegen eine Plattform vorgeht, entsteht schnell eine neue.

Wir haben akut ein Problem mit Telegram, deswegen kümmere ich mich als Innenministerin jetzt darum. Wenn neue Kanäle entstehen, werden wir uns auch damit befassen. Wir werden nicht aufhören. Das viel größere Thema ist allerdings die Frage, wie Radikalisierung im Internet abläuft und wie man Menschen aus einer solchen Spirale wieder herausbekommt. Das ist eine Mammutaufgabe für die gesamte Gesellschaft, die wir eher vorgestern als heute angehen müssen.

Wie?

Ich will, dass dieses Haus einen großen Beitrag dazu leistet, gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Dazu gehören Präventionsprogramme und zuallererst das Demokratiefördergesetz. Dieses Gesetz stärkt zivilgesellschaftliche Gruppen, und es wird eines meiner ersten Projekte hier sein. Ich gehe da mit einem modernen Gesellschaftsbild an die Arbeit und will auch hier mehr Fortschritt wagen.

Mehrere Untersuchungsausschüsse in Hessen, an denen Sie beteiligt waren, haben sich mit rechtsextremem Terror beschäftigt: den NSU-Morden, dem Mord am Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, dem Anschlag in Hanau. Welche Lehren haben Sie daraus gezogen?

Nach der Enttarnung des NSU hat die Bundesregierung angekündigt, dass alles aufgeklärt werde. Deshalb müssen wir die Strukturen und Verbindungen hinter dem NSU weiter aufklären. Das ist eine Frage der Glaubwürdigkeit für die gesamte Politik. Und es ist wichtig, damit die Sicherheitsbehörden erkennen, welche Fehler gemacht wurden, damit sie künftig vermieden werden.

Diese Fehleranalyse ist noch nicht gelungen?

Sie ist an manchen Stellen gut gelungen, zum Beispiel bei der Aus- und Fortbildung von Sicherheitskräften, aber längst nicht überall. Die schlimmste Erkenntnis aus dem furchtbaren Mord an Walter Lübcke war für mich, dass erneut in den Behörden ähnliche Fehler passiert sind wie Jahre zuvor beim NSU.

Welche Fehler meinen Sie?

Die Behörden haben den späteren Mörder aus den Augen verloren, obwohl Erkenntnisse vorlagen, dass der Mann in der Vergangenheit extrem radikal war. Wie wir heute wissen, war das eine verheerende Fehleinschätzung.

Schärferes Waffenrecht

Den rassistischen Attentäter von Hanau hatten die Sicherheitsbehörden überhaupt nicht auf dem Schirm. Ein Versäumnis?

Dieser Attentäter hat sich ja nicht ausschließlich im Verborgenen radikalisiert, sondern er hat Briefe an Ämter und Behörden geschrieben, aus denen seine rechtsextreme Weltsicht und sein Wahn deutlich wurden. Da geht es nicht nur darum, ob die Sicherheitsbehörden genau hingeschaut haben, sondern darüber hinaus: Wie reagieren Ämter, wenn sie solche Schreiben erhalten? Wann müsste die Staatsanwaltschaft eingebunden werden? Das sind sehr spannende Fragen, die ich stellen werde.

Der Hanauer Täter konnte sich ganz legal Schusswaffen besorgen. Sie forderten daraufhin, die Gesetze zu verschärfen.

Wer psychisch auffällig ist oder sich offensichtlich radikalisiert hat, darf keine Waffen besitzen, erst recht nicht legal. Wir werden in der Koalition darüber reden, ob vor der Erteilung von Waffenerlaubnissen zusätzliche Nachweise zur Zuverlässigkeit eingefordert werden müssen und wie wir die Kommunikation der Behörden verbessern können.

Müsste nicht auch intensiver kontrolliert werden, ob Inhaber legaler Waffen verantwortungsvoll damit umgehen?

Regelmäßige Kontrollen sind bereits jetzt vorgesehen, aber sie müssen auch stattfinden. Es bringt nichts, ein scharfes Waffengesetz zu beschließen, wenn es in den Ordnungsämtern der Kommunen dann kein Personal gibt, um es zu vollstrecken. Wir müssen die Gesetze bis zu Ende denken und an die notwendigen Mittel für deren Vollzug.

Bei der hessischen Polizei wurden in den vergangenen Jahren mehrere rechtsextreme Chatgruppen aufgedeckt. Ist das vor allem ein Problem in Ihrer Heimat?

Es ist sicher nicht nur ein hessisches Problem. Und auch in Hessen ist es nur ein sehr kleiner Teil der Beamten – aber natürlich ein sehr bedenklicher Teil. Unsere Vorgängerregierung hat eine Studie für die Polizei in Auftrag gegeben. Ich werde mir die Ergebnisse genau anschauen und dann entscheiden, ob man bei den Erkenntnissen noch nachschärfen muss.

Sie haben oft die hessische Verfassungsschutzbehörde kritisiert, jetzt sind Sie Dienstherrin des Bundesamts. Planen Sie dort eine Erneuerung?

Beim Bundesamt für Verfassungsschutz hat es schon sehr viel Erneuerung gegeben, gerade als Konsequenz aus dem NSU-Untersuchungsausschuss. Ich gehe erst mal mit einer großen Portion Vertrauen in Behörden an die Arbeit und schaue mir genau an, wie es funktioniert.

Der letzte SPD-Bundesinnenminister, Otto Schily, wurde als »roter Sheriff« bezeichnet und ließ sich mit Helm und Polizeiknüppel fotografieren. Würden Sie auch solche Bilder von sich machen lassen?

(lacht) Nein, das würde ich nicht machen. Aber es wird sicher viele Bilder von mir geben mit Polizistinnen und Polizisten, die ich bei ihrer Arbeit besuche. Das habe ich auch in Hessen häufig gemacht. Es wird auch Bilder geben, wie ich mit Vertretern der Zivilgesellschaft zusammentreffe und diskutiere. Ich stehe für Sicherheit in einer modernen und offenen Gesellschaft!

Drohschreiben vom "NSU 2.0"

Sie wurden auch selbst schon bedroht, zum Beispiel durch einen Brief mit weißem Pulver vom angeblichen Absender NSU 2.0. Wie gehen Sie damit um?

Mich selbst hat das darin bestärkt zu sagen: Ich bin auf dem richtigen Weg und lasse mich nicht davon abhalten, Rechtsextremismus zu bekämpfen. Das ist mir eine Herzensangelegenheit.

Als Innenministerin gelten Sie als besonders gefährdet, deshalb werden Sie rund um die Uhr geschützt. Sie haben einen sechsjährigen Sohn, wie verändert es das Familienleben, wenn man plötzlich immer Sicherheitsleute um sich hat?

Ich habe das Angebot von Olaf Scholz natürlich erst angenommen, nachdem ich mit meiner Familie darüber geredet hatte. Ein solches Amt müssen auch Frauen mit Kindern ausfüllen können. Alles andere wäre schlimm.

In Hessen waren Sie als SPD-Landesvorsitzende angetreten, um in knapp zwei Jahren für das Amt der Ministerpräsidentin zu kandidieren. Haben Sie dieses Ziel jetzt aufgegeben?

Ich werde mich im Mai zur Wiederwahl als Landesvorsitzende stellen. Jetzt bin ich Bundesinnenministerin und werde mich mit voller Kraft den Aufgaben widmen, die dieses Amt mit sich bringt.

Mit dem Verteidigungs- und dem Innenministerium werden die wichtigsten Ressorts für die Sicherheit des Landes jetzt von Frauen geführt. Was wird das verändern?

Das sollte im 21. Jahrhundert normal sein, auch wenn ich die erste Frau in diesem Amt bin. Frauen haben manchmal wohl andere Herangehensweisen an Dinge, sind vielleicht auch nicht so laut wie manche Männer. Aber für die Art, wie ich mein Amt führen will, spielt es keine große Rolle, ob ich eine Frau bin oder ein Mann, sondern eher, dass ich Sozialdemokratin bin und keine Christdemokratin.

An der Grenze von Belarus nach Polen sitzen seit Wochen Hunderte Geflüchtete fest. Sollte Deutschland diese Menschen aufnehmen?

Diesem Erpressungsversuch von Alexander Lukaschenko darf sich die EU nicht beugen. Und wir sehen ja, dass ein gemeinsames Vorgehen Europas Erfolg hat. Viele der Menschen kehren jetzt wieder in ihre Heimatländer zurück. Gleichzeitig stecken noch immer Hunderte im Grenzgebiet fest, und der Winter hat begonnen. Wir müssen die menschenrechtliche Situation vor Ort im Blick behalten. Wichtig ist, dass alles, was wir tun, in Europa abgestimmt ist. Einen deutschen Alleingang wird es nicht geben.

Das Berliner Kammergericht hat in dieser Woche geurteilt: Der Mord im Kleinen Tiergarten 2019 war Staatsterror, ein Auftragsmord durch Russland. Wie reagiert die Bundesregierung?

Das Auswärtige Amt hat, auch mit meiner Zustimmung, umgehend den russischen Botschafter einbestellt und zwei Diplomaten ausweisen lassen. Das ist ein sehr ernster Vorgang. Wir können in keiner Weise akzeptieren, dass ein Staat auf deutschem Boden Morde in Auftrag gibt. Wir behalten uns weitere Schritte ausdrücklich vor.

Zuständig für "Heimat"

Ihr Ministerium trägt auch unter Ihnen den Begriff Heimat im Namen. Viele Menschen fremdeln mit diesem Wort. Was verstehen Sie darunter?

Heimat umfasst alle Menschen, egal wo sie herkommen, was sie glauben, wen sie lieben. Der Begriff soll signalisieren, dass wir die Gesellschaft zusammenhalten wollen. Ich glaube, wenn man ihn so offen und modern versteht, können sich viele Menschen etwas sehr Positives darunter vorstellen.

Vor ein paar Monaten haben Sie im Kommunalwahlkampf gesagt, Heimat sei für Sie Schwalbach am Taunus, wo Sie aufgewachsen sind und bis heute wohnen. Was kann Deutschland von Schwalbach lernen?

Eine ganze Menge, was die Integration der Gesellschaft betrifft. Schwalbach hat einen hohen Migrationsanteil und es großartig geschafft, eine offene, tolerante Gesellschaft vorzuleben. Das hat mich immer wahnsinnig an meiner Heimatstadt berührt. Ich möchte auch hier im Ministerium den Migrationsbereich nicht mehr nur unter dem Sicherheitsaspekt betrachten.

Ihr Ehrenamt als Kommunalpolitikerin werden Sie aber wohl aufgeben müssen, oder?

Den Kontakt zu den Menschen in Schwalbach und meinem SPD-Ortsverein werde ich halten. Die Menschen dort sorgen dafür, dass ich mit beiden Füßen auf dem Boden bleibe.

Frau Faeser, wir danken für dieses Gespräch.