"Das leistet radikalen Kräften Vorschub"
Interview 01.12.2020
Der Bundesinnenminister über Verschwörungstheorien in der Coronakrise, verschlüsselte Messengerdienste und den Umgang mit Technik aus China
Handelsblatt
Herr Minister Seehofer, am Dienstag findet der Digital-Gipfel statt. Was erwarten Sie sich von dem Gipfel in Pandemiezeiten?
Der Gipfel findet erstmals rein virtuell statt. Das ist sinnbildlich für die Herausforderungen dieses Jahres aber auch für die Chancen der Digitalisierung. Natürlich wollen wir dabei auch die Erfolge hervorheben. Den Digitalisierungsschub aus der Krise haben wir genutzt. Wir sind mit der Umsetzung des Online-Zugangsgesetzes massiv vorangekommen. Wir haben Gesundheits- und krisenrelevante Leistungen und Eilverfahren für wichtige Digitalisierungsprojekte beschleunigt umgesetzt. Beim Infektionsschutzgesetz dauerte es zum Beispiel nur 36 Tage vom Inkrafttreten des Gesetzes bis zum Online-Verfahren.
Der diesjährige Gipfel steht unter dem Motto "Digital nachhaltiger leben". Wo sehen Sie hier die Rolle Ihres Hauses?
Nachhaltigkeit ist ohne Digitalisierung und starke IT-Sicherheit nicht mehr denkbar. Mit dem IT-Sicherheitsgesetz 2.0 soll das Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik in die Lage versetzt werden, Verbraucherinnen und Verbraucher für Gefahren im Internet verstärkt zu sensibilisieren und zu beraten. Das IT-Sicherheitskennzeichen, das wir mit dem Gesetz einführen wollen, soll darüber informieren, wie lange Sicherheitsupdates durch den Hersteller gewährleistet werden. So können sich Verbraucher bewusst für Geräte mit einer längeren Nutzbarkeit und für mehr Nachhaltigkeit entscheiden.
Herr Minister, die Bundesregierung steht nach zwei Jahren Streit vor einer Einigung auf das neue IT-Sicherheitsgesetz 2.0. Besonders umstritten war der Einsatz von Technologie des chinesischen Konzerns Huawei im deutschen 5G-Mobilfunknetz. Warum laviert die Bundesregierung hier seit Jahren herum?
Das IT-Sicherheitsgesetz 2.0 sieht eine umfassende Stärkung der IT-Sicherheit in Deutschland bei Behörden und Unternehmen vor. Dies bedeutet jedoch auch die Notwendigkeit zu einer sorgfältigen Abwägung, nämlich zu der Frage, inwieweit die Anforderungen an die IT-Sicherheit zu Eingriffen in wirtschaftliches Handeln berechtigen. Beim Thema 5G-Mobilfunknetz hatten wir dazu intensive Diskussionen. Wir haben ein jetzt ein gutes, ausgewogenes Ergebnis.
Viele europäische Länder wie Polen, Großbritannien, Frankreich und zuletzt Schweden haben sich klar gegen chinesische Lieferanten wie Huawei beim Aufbau der neuen 5G-Netze entschieden. Deutschland nicht, fürchten Sie die Reaktion Pekings?
Im Jahr 2020 müssen wir technischen Herausforderungen in erster Linie technisch begegnen. Es ist daher nach meiner Auffassung nur der zweitbeste Weg, Anbieter generell vom Markt auszuschließen. Der jetzt eingeschlagene Weg definiert erhöhte Sicherheitsanforderungen für alle Hersteller, unabhängig aus welchem Land dieser Erde. Damit wird die IT-Sicherheit insgesamt wesentlich verbessert.
Können Anbieter aus einem Hightech-Überwachungsstaat vertrauenswürdig sein?
Es kommt primär nicht auf den Herkunftsstaat an, sondern auf die Technik, die eingesetzt wird. Wir haben jetzt eine gesetzliche Regelung auf den Weg gebracht, die es uns erlaubt, die Vertrauenswürdigkeit in geeigneter Weise zu prüfen. Dabei nehmen unsere Sicherheitsinteressen großen Raum ein.
Müssen sich die Netzbetreiber nun auf Milliardenkosten einstellen, weil sie weniger Komponenten chinesischer Lieferanten einsetzen dürfen?
Die Frage von zusätzlichen Kosten stellt sich nicht. Die Netzbetreiber sind für die angemessene Sicherheit ihrer Netze verantwortlich. Dabei dürfen grundsätzlich auch Komponenten chinesischer Hersteller zum Einsatz kommen, wenn sie die Anforderung an IT-Sicherheit und Vertrauenswürdigkeit erfüllen.
Digitale Technologien sind zum Feld eines großen geopolitischen Kräftemessens zwischen den USA und China geworden. Kann sich Europa behaupten?
In einigen Technologiebereichen ist es zu einer marktbeherrschenden Position von nicht-europäischen Anbietern gekommen. Die Souveränitätsverluste nehmen wir sehr ernst.
Die EU ist etwa in der Halbleiter-Industrie inzwischen abhängig von den USA und Asien. Befürchten Sie, dass diese Tatsache als Druckmittel gegen Europa eingesetzt werden könnte?
Wir arbeiten an einer Reihe von Initiativen, mit denen wir die Position Deutschlands und Europas auf dem Weltmarkt stärken. Wir haben zum Beispiel die Agentur für Innovation in der Cybersicherheit gegründet und planen ein Zentrum Digitale Souveränität (ZenDis).
Was erwarten Sie sich hier von der neuen US-Regierung unter Joe Biden?
Die USA sind traditionell unser engster Verbündeter. Dass wir nicht in allem einer Meinung sind und sein werden, gehört ebenso dazu, wie das gemeinsame Streiten für gemeinsame Überzeugungen. Ich freue mich jedenfalls auf die Zusammenarbeit mit der neuen Administration.
Kommen wir zum Kampf gegen Corona. Verschwörungstheorien zum Coronavirus werden seit Monaten über die sozialen Netzwerke verbreitet und erreichen über YouTube oder Facebook Millionen von Bürgern. Müssen wir das als offene Gesellschaft schlicht aushalten oder noch wehrhafter werden?
Ich sehe die Verbreitung von Desinformation und Verschwörungstheorien über die Coronakrise mit Sorge. Sie leistet radikalen Kräften Vorschub und ist geeignet, die demokratische Willensbildung zu manipulieren. Es gibt hierfür aber kein einfaches Gegenmittel. Grundsätzlich gilt: Je aufmerksamer wir für Desinformation als politische Waffe werden, desto besser können wir uns vor diesen Angriffen auf unser politisches System schützen. Gerade deshalb ist die öffentliche Auseinandersetzung mit Desinformation und Verschwörungstheorien wichtig. Die überwiegende Mehrheit der Menschen ist nämlich nicht bereit, die Beschädigung unserer freiheitlichen Demokratie hinzunehmen.
Rechtsextreme nutzen die Pandemie und neue Medien, um ganz neue Bevölkerungsgruppen anzusprechen. Wie sehr beunruhigt Sie das?
Das Phänomen ist nicht neu, aber dennoch beunruhigt es mich, dass Rechtsextremisten, Reichsbürger und Verschwörungsideologen zusammen mit Impfgegnern und Corona-Kritikern demonstrieren. Jeder muss sich selbst prüfen, mit wem er paktiert. Die Sicherheitsbehörden haben einen genauen Blick darauf, was sich da entwickelt hat.
Letzlich bedarf es aber einer engen und verzahnten Zusammenarbeit aller gesellschaftlichen Kräfte, um extremistischen Strömungen nachhaltig entgegenzutreten. Wir haben erst am vergangenen Mittwoch einen Katalog von 89 Maßnahmen vorgelegt, mit denen wir den Weg in diese Richtung weitergehen wollen.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das geplante Gesetz gegen Hasskriminalität wegen verfassungsrechtlicher Einwände gestoppt. Die Regierung muss nun nacharbeiten. Bleibt es dabei, dass die Betreiber sozialer Netzwerke strafbare Inhalte mitsamt Daten über die Urheber an das Bundeskriminalamt (BKA) melden müssen?
Der Gesetzentwurf wird bereits zwischen des Ressorts abgestimmt. Wir wollen ihn möglichst zügig in das Kabinett einbringen. An der Pflicht der Betreiber sozialer Netzwerke zur Meldung bestimmter Inhalte hält die Regierung weiterhin fest.
Wie wollen Sie verhindern, dass die zu erwartende Verfahrensflut das BKA und Staatsanwaltschaften heillos überfordert?
Die neue Meldepflicht wird zu einer hohen Anzahl an Meldungen beim BKA und zu mehr Strafverfahren führen. Das BKA befasst sich intensiv damit und hat inzwischen ein IT-gestütztes Verfahren entwickelt, das die Bewältigung des erhöhten Aufkommens unterstützen wird. Außerdem haben wir das BKA personell deutlich gestärkt. Das BKA steht hierzu auch im engen Austausch mit den Ländern.
Auch Kriminelle und Terroristen haben früh verstanden, die dunklen Ecken des Internets für Ihre Zwecke zu nutzen. Wie weit sind die Strafverfolgungsbehörden inzwischen in der Lage, die Täter zu stellen?
Unsere Sicherheitsbehörden erzielen immer wieder Ermittlungserfolge im so genannten Darknet. Im Oktober gab es bundesweite Ermittlungen gegen den Handel mit illegalen Waren und Dienstleistungen über den Messenger Dienst Telegram und ich erinnere daran, dass Mitte des letzten Jahres die Darknet-Handelsplattform „Wall Street Market“ abgeschaltet wurde. Im Rahmen dessen stoßen unsere Sicherheitsbehörden mit den klassischen Ermittlungsinstrumenten immer wieder an ihre Grenzen. Wir brauchen im Umgang mit Verschlüsselung Rahmenbedingen, mit denen dieses Ungleichgewicht rechtstaatlich ausgeglichen werden kann.
Sie sprechen sich dafür aus, den Zugang der Ermittler zu verschlüsselten Messengerdiensten wie WhatsApp oder Telegram zu erleichtern. Wie wollen Sie verhindern, dass durch solche Hintertüren auch Kriminelle schlüpfen?
Genau das diskutieren wir national und auch mit unseren Partnern auf EU-Ebene. Verschlüsselung ist zum Schutz der Vertraulichkeit von Informationen unverzichtbar. Sicher ist aber auch, dass die Täter die Verschlüsselung zur Verschleierung ihrer kriminellen Aktivitäten nutzen. Gegen schwere und schwerste Bedrohungen müssen wir vorgehen, daran darf es keinen Zweifel geben. Wir wollen hierzu gemeinsam mit den Anbietern der Internetplattformen Lösungsmöglichkeiten entwickeln.
Bislang sind die Nachrichtendienste oft auf ausländische Dienste angewiesen, um Zugang zu den verschlüsselten Informationen zu erhalten. Ist das nicht eine Bankrotterklärung des deutschen Rechtsstaats?
Der Schutz der Menschen in Deutschland ist vorrangig durch die deutschen Sicherheitsbehörden zu gewährleisten. Diese müssen mit den dafür jeweils nötigen Befugnissen ausgestattet sein. Das bedeutet, dass wir die Befugnisse der Sicherheitsbehörden angemessen fortentwickeln müssen. Auch unsere Sicherheitsbehörden müssen mit erforderlichen und wirksamen Befugnissen ausgestattet werden, die in der digitalisierten Welt notwendig sind.