"Ich warne: Eine Sonderbehandlung für Geimpfte spaltet die Gesellschaft"
Interview 29.12.2020
Der Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat, Horst Seehofer, im Gespräch mit der BILD am SONNTAG
BILD am SONNTAG vom 27.12.2020
BILD am SONNTAG: Herr Seehofer, wie feiern Sie Silvester?
Ich bleibe mit meiner Frau zu Hause in Ingolstadt. Normalerweise feiern wir Silvester im Freundeskreis, aber in diesem Jahr ist alles anders.
Ab Sonntag soll auch in Deutschland geimpft werden. Eine Frage an den Verfassungsminister: Darf es Sonderrechte für Geimpfte geben?
Politisch habe ich da eine ganz klare Haltung. So wichtig das Impfen für uns alle ist: Keine Sonderbehandlung für Geimpfte! Eine Unterscheidung zwischen Geimpften und Nicht-Geimpften kommt einer Impfpflicht gleich. Ich bin aber gegen einen Impfzwang. Wir alle stecken in dieser Krise und wir sollten uns gemeinsam und solidarisch heraus kämpfen.
Und was ist, wenn Fluglinien, Gastwirte oder auch Bundesliga-Vereine Zutritt zu Flugzeug, Restaurant oder Stadion nur Menschen gewähren wollen, die gegen Corona geimpft sind?
Ich kann davor nur warnen. Eine Sonderbehandlung für Geimpfte spaltet die Gesellschaft. Des einen Privileg ist die Benachteiligung des anderen. Der Staat muss neutral bleiben und darf nicht zum Vormund der Bürgerinnen und Bürger werden. Die Menschen erhalten täglich Verhaltensempfehlungen und Ratschläge aus Medizin und aus Wissenschaft. Das ist für die Aufklärung und das Verständnis wichtig, aber die Politik sollte an dieser Stelle zurückhaltender sein.
Die Zahl der Neuinfektionen und Todesfälle ist weiter sehr hoch. Was ist schief gelaufen?
Die übergroße Mehrheit der Bevölkerung verhält sich ausgesprochen verantwortungsbewusst und klug. Die Bürgerinnen und Bürger haben die zweite Corona-Welle in diesem Ausmaß nicht zu verantworten.
Wer ist dann Schuld?
Ministerpräsident Winfried Kretschmann und unser Fraktionsvorsitzender Ralph Brinkhaus haben es treffend beschrieben: Die ab Oktober ergriffenen Maßnahmen waren unzureichend. Ich war Zeuge mehrerer Ministerpräsidenten-Konferenzen mit der Bundeskanzlerin und Bundesministern. Einige der teilnehmenden Politiker haben den Ernst der Lage einfach unterschätzt. Die Bundeskanzlerin gehörte übrigens nicht dazu.
Was ist konkret versäumt worden?
Ich habe in verschiedenen Stationen meiner politischen Laufbahn solche Gesundheitskrisen erlebt. Aus den Erfahrungen weiß ich eines sicher: Sie bekommen die Ausbreitung eines hochinfektiösen und potenziell tödlichen Virus nur mit rigorosen Gegenmaßnahmen in den Griff und nicht mit angezogener Handbremse. Dazu gehört auch, dass für Schulen und den öffentlichen Personennahverkehr ein striktes Schutzkonzept gelten muss. Bis heute gibt es hier keine zufriedenstellenden Lösungen.
Muss der Lockdown über den 10. Januar verlängert werden?
Wenn der Lockdown wirkt und die Zahlen nach unten gehen, dann dürfen wir mit schnellen Lockerungen nicht alles riskieren, was wir erreicht haben. Sonst geht es wieder von vorne los. Hat der Lockdown keine ausreichende Wirkung, müssen die Maßnahmen verschärft werden. Das Ziel der Schutz- und Hygienemaßnahmen ist, die Dynamik im Infektionsgeschehen zu durchbrechen. Wir sollten jetzt die Entwicklung abwarten und dann entscheiden. Eine dritte Welle müssen wir unter allen Umständen vermeiden.
Haben Sie Verständnis für Weihnachtsurlaub in der Sonne oder zum Skifahren?
Derzeit brechen Tausende, wenn nicht gar Millionen Deutsche in die ganze Welt auf, aber fast die ganze Welt ist Risikogebiet. Das widerspricht unseren Maßnahmen und der dringenden Bitte, von Reisen abzusehen. Wir haben in Deutschland drastische Maßnahmen verhängt mit schwerwiegenden Auswirkungen. Aber das darf nicht durch unvernünftige Reisen unterlaufen werden. Wir müssen die Reiserückkehrer stärker in den Blick nehmen. Die zehntägige Quarantäne und die Testung für Reisende, die aus Risikogebieten im Ausland zurückkehren, muss konsequent überwacht werden, und zwar bundesweit. Die Reiserückkehrer gehören auf den Radar der Gesundheitsämter. Im Übrigen habe ich die Bundespolizei angewiesen, den grenzüberschreitenden Verkehr stärker zu kontrollieren.
Die Behörden sind doch schon jetzt mit der Nachverfolgung der Infektionen überfordert...
Für die ersten Wochen des Jahres sollte die Überwachung der Reiserückkehrer höchste Priorität haben. Wir müssen endlich vor die Lage kommen anstatt allen Entwicklungen hinterher zu laufen. Da und dort sind die Skigebiete geöffnet. Was das bedeuten kann, wissen wir noch aus dem letzten Winter. Wir brauchen kein zweites Ischgl. Eine nationale Kraftanstrengung heißt, dass ALLE ihren Beitrag leisten müssen.
Sie wollen Gefährder in die Assad-Diktatur Syrien abschieben. Ist das realistisch - es gibt weder diplomatische Beziehungen noch Flugverbindungen.
Mit dem Präsidenten des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge ist besprochen, dass wir ab 1. Januar 2021 jeden einzelnen Fall genau prüfen und versuchen, eine Abschiebung zu ermöglichen. Es gibt Fälle, in denen das vorstellbar ist. Dass das ein schwerer und langer Weg ist, weiß ich auch. Tun wir das aber nicht, bedeutet es doch, dass man sich in Deutschland alles erlauben kann - vom Ladendiebstahl bis zum Totschlag. Man muss jedenfalls nie damit rechnen, abgeschoben zu werden. Einen solchen Freibrief darf es in unserem Rechtsstaat nicht geben. Eines muss doch ganz klar sein: Wer schwer straffällig wird oder unsere Verfassung mit Füßen tritt, muss unser Land wieder verlassen.
Ende 2021 gehen Sie - gemeinsam mit Angela Merkel - in den Ruhestand. Sind Ihre Memoiren schon fertig?
Anfang nächsten Jahres bin ich 50 Jahre in der Politik tätig. Davon die Hälfte als Minister oder Ministerpräsident. Aus dieser Zeit gibt es einen enormen Fundus an Jahresrückblicken und Chroniken, die ich sicher nicht im Keller einstauben lassen möchte. All diese Erinnerungen werden zeigen, wie es aus meiner Sicht war. Ich werde nichts beschönigen. Die Leute sollen mein Handeln verstehen. Aber alles zu seiner Zeit.
Das Interview erschien am 27.12.2020 in der BILD am SONNTAG. Das Gespräch führten Roman Eichinger und Burkhard Uhlenbroich.