"Ich will keine Pull-Effekte"

Typ: Interview , Datum: 06.10.2019

Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) über die neuen Fluchtwege auf der Balkanroute und die Regeln der Seenotrettung. Den Rechtsradikalismus hält er mittlerweile für eine der größten Gefahren in Deutschland.

WELT AM SONNTAG vom 06.10.2019

Unionsfraktionschef Ralph Brinkhaus ist auf Distanz zu den Plänen von Bundesinnenminister Horst Seehofer zur Aufnahme von Bootsflüchtlingen gegangen. Horst Seehofer kann dies wie auch die Kritik seiner CSU-Parteifreunde nicht nachvollziehen.

WELT AM SONNTAG: Herr Seehofer, Ihre Entscheidung, künftig ein Viertel der in Seenot geratenen Menschen aufzunehmen, haben einige Ihrer Freunde in der Union ablehnend quittiert. Fühlen Sie sich missverstanden?

Horst Seehofer: Wir nehmen seit knapp eineinhalb Jahren von jedem Boot, das vor Italien oder Malta anlegt, Flüchtlinge in Deutschland auf. In den letzten 15 Monaten haben wir 225 Personen übernommen. Das ist kein Geheimnis, und darüber gab es bisher keine Debatten. Die Regelung, die wir in Malta als Vorschlag ausgearbeitet haben, soll dieses Engagement in einem geordneten Verfahren fortführen. Die aus Seenot Geretteten sollen zügig an Land gehen dürfen und sollen dann in den Mitgliedstaaten verteilt werden, wo sie ein ergebnisoffenes Asylverfahren durchlaufen.

WELT AM SONNTAG: Und wenn es mehr werden?

Seehofer: Ich will keine Pull-Effekte. Wir wollen mit dem Mechanismus auch in keinem Fall das menschenverachtende Geschäft der Schleuser unterstützen. Sollte der Notfallmechanismus falsche Anreize setzen oder missbraucht werden, kann ich ihn jederzeit ohne weitere Konsultation einseitig für Deutschland beenden. Ich bin entschlossen, bei Bedarf davon Gebrauch zu machen.

WELT AM SONNTAG: Vor einem Jahr haben Sie gesagt, dass man das Rettungsschiff "Lifeline" festsetzen müsse. Heute bezeichnen Sie es als "unglaublich", sich für die Seenotrettung rechtfertigen zu müssen. Haben Sie Ihre Meinung geändert?

Seehofer: Damals wie heute halte ich es für unglaublich, dass man sich als Politiker für die Rettung von Ertrinkendenrechtfertigen muss. Die Verantwortung dafür, dass keine falschen Anreize an die Schleuser ausgesendet werden, liegt aber nicht allein bei den Regierungen. Deswegen hat die neue italienische Innenministerin recht, wenn sie sich beispielsweise um einen Verhaltenskodex für NGOs bemüht. Wir werden einen solchen Verhaltenskodex ausarbeiten, auch wenn er sich derzeit nur auf ein Schiff bezieht, das unter deutscher Flagge fährt.

WELT AM SONNTAG: Welchen Verhaltenskodex müssen die privaten Seenotretter einhalten?

Seehofer: Sie sollten sich auf die Seenotrettung beschränken. Eine Zusammenarbeit von NGOs mit Schleusern darf es nicht geben. Das würde das Engagement der Seenotretter massiv diskreditieren.

WELT AM SONNTAG: Wie viele der Menschen, die auf dem Mittelmeer gerettet werden, haben Anspruch auf Asyl?

Seehofer: Wir haben dazu noch keine belastbaren Zahlen. In den 225 Fällen, die wir bislang übernommen haben, lag der Wert etwa bei 47 Prozent. Da kann es aber starke Schwankungen geben, weil das von vielen Faktoren abhängig ist.

WELT AM SONNTAG: Wenn Migranten wissen, dass ein Viertel der Bootsflüchtlinge in Deutschland aufgenommen wird, könnte das ein Grund sein, sich in ein Boot zu setzen?

Seehofer: Die Quoten sind noch gar nicht festgelegt, weil nicht klar ist, welche weiteren Länder sich an dem Verteilmechanismus beteiligen. Darüber reden wir beim nächsten Treffen der EU Innen- und Justizminister in der kommenden Woche in Luxemburg.

WELT AM SONNTAG: Sie haben in einem Interview kürzlich von einem Viertel der aus Seenot Geretteten gesprochen.

Seehofer: Das bezog sich auf den Anteil der Zusagen, die wir in den letzten Monaten gegeben hatten. Aber noch mal, eine Festlegung dazu gibt es noch nicht. Im Übrigen: Hätten wir eine gemeinsame europäische Asylpolitik,
dann müsste Deutschland im Falle einer Verteilung etwa 22 Prozent der Asylbewerber aufnehmen. Wir haben uns also auch in den vergangenen Monaten praktisch nicht von dem wegbewegt, was ohnehin unsere Verpflichtung wäre. Entscheidend ist, dass wir die Chance nutzen, die sich mit der französischen und neuen italienischen Regierung ergibt.

WELT AM SONNTAG: Sie haben gesagt, dass Sie dabei sind, ein europäisches Asylsystem zu schaffen. Wie stellen Sie sich das vor?

Seehofer: Wir brauchen einen funktionierenden und wirksamen Außengrenzschutz. Schließlich sollen die Binnengrenzkontrollen, die ich jetzt noch mal für weitere sechs Monate angeordnet habe, irgendwann enden. Nach meiner Vorstellung muss auch bereits an der Außengrenze entschieden werden, wer in andere Mitgliedstaaten zur Prüfung des Asylantrags verteilt wird und wer nicht. Dabei brauchen wir ein rechtsstaatliches Verfahren. Ohne ein gemeinsames Asylrecht in Europa werden wir die Migrationsbewegungen nicht ordnen können.

WELT AM SONNTAG: Leider hapert es bei der Rückführungen abgelehnter Asylbewerber. Warum kommt die Umsetzung Ihrer Ideen in diesem Bereich nicht voran?

Seehofer: Wenn wir auf das Jahr 2018 schauen, dann stellen wir fest, dass die Zahl der Zuwanderer bereits das zweite Jahr in Folge gesunken ist. In den ersten acht Monaten dieses Jahres waren wir bei 98.000 Asylerstanträgen, wieder ein Rückgang von zehn Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Von dem im Koalitionsvertrag vereinbarten Zuwanderungskorridor von 180.000 bis 220.000 sind wir weit entfernt. Unsere Maßnahmen wirken also. Bei der Rückführung müssen wir aber in der Tat noch wirksamer werden. Deswegen haben wir in diesem Jahr ein großes Migrationspaket verabschiedet. Damit schafft der Bund die gesetzlichen Rahmenbedingungen für konsequentere Rückführungen. Ich bin froh, dass wir dieses gigantische Migrationspaket in der Koalition auf den Weg bringen konnten. Noch vor zehn Jahren wäre dies undenkbar gewesen. Das gilt insbesondere auch für das Fachkräftezuwanderungsgesetz. All dies ist geschehen! Für die Umsetzung des Ausländerrechts und der Rückführungen sind aber die Bundesländer verantwortlich. Wir unterstützen sie an vielen Stellen, etwa durch unsere Bundespolizei und bei der Passersatzbeschaffung. Für die Rückführungsbegleitung wird der Personalpool derzeit auf 2000 Polizisten erhöht. Aber ohne den Beitrag der Länder wird es nicht gelingen.

WELT AM SONNTAG: Wir haben in Deutschland 500 Abschiebehaftplätze. Sind das zu wenig?

Seehofer: Eindeutig ja. Wir brauchen mindestens die doppelte Anzahl. Deshalb haben wir mit dem Geordnete-Rückkehr-Gesetz die gesetzlichen Voraussetzungen geschaffen, die Kapazitäten kurzfristig zu erhöhen. Aber auch dafür sind die Länder zuständig. Ich habe mein Haus beauftragt, mir zum Jahresende eine Bilanz vorzulegen. Ich möchte mir anschauen, wir unsere Gesetze wirken.

WELT AM SONNTAG: Seit einiger Zeit ist es über die Balkanroute wieder leichter, nach Deutschland zu kommen. Wer ist dafür verantwortlich?

Seehofer: Die Balkanroute verdient meine höchste Aufmerksamkeit. Deswegen bin ich ja in die Türkei und nach Griechenland gefahren, um zu erfahren, was der Grund dafür ist. In Griechenland kommen jeden Tag einige hundert Menschen an. Die Türkei bemängelt, dass die EU das Abkommen nicht voll erfüllt. Wenn wir helfen können, werden wir das ernsthaft prüfen. Deswegen habe ich auf die Reise auch Spezialisten des BAMF mitgenommen. Ich nehme die Situation dort sehr ernst und beschäftige mich frühzeitig damit. Das Jahr 2015 darf sich nicht wiederholen.

WELT AM SONNTAG: Wer trägt die Schuld, dass der Deal mit der Türkei nicht funktioniert?

Seehofer: Insgesamt ist die EU-Türkei-Erklärung ein Segen. Sie hat es ermöglicht, die Migration aus der Türkei nach Griechenland zu steuern, und damit viele Menschen vor dem Ertrinken bewahrt.

WELT AM SONNTAG: Kürzlich forderte Ihr Parteifreund Manfred Weber, die versprochenen sechs Milliarden für die in der Türkei lebenden vier Millionen Flüchtlinge aufzustocken, damit Anreize für die Überfahrt nach Griechenland sinken und die Küstenwache Boote vom Ablegen abhält. Hat er recht?

Seehofer: Die Türkei leistet bei der Aufnahme von Flüchtlingen sehr viel. Das liegt auch in unserem Interesse. Darüber hinaus ist klar, dass wir nicht mit den Mitteln der Vergangenheit die Zukunft bewältigen können. Deswegen
will ich die Zusammenarbeit mit der Türkei weiter stärken. Daran orientiere ich mein Handeln.

WELT AM SONNTAG: Wie viel Geld sollte die Türkei denn zusätzlich erhalten?

Seehofer: Diese Entscheidung kann ich als deutscher Innenminister nicht allein treffen. Wir werden dazu auf europäischer Ebene Gespräche führen müssen. Ich werde mich dafür einsetzen, dass die Leistung der Türkei, die in unser aller Interesse liegt, angemessen berücksichtigt wird.

WELT AM SONNTAG: Anders als Deutschland schiebt die Türkei bereits nach Syrien ab. Wann können die Syrer in Deutschland Ihrer Meinung nach zurückkehren?

Seehofer: Wie in Afghanistan gibt es natürlich auch in Syrien mittlerweile Regionen, in denen man relativ sicher leben kann. Aber: Die Gesamtlage lässt Abschiebungen noch nicht zu. Ende des Jahres werden wir mithilfe des Auswärtigen Amts eine Neubewertung der Sicherheitslage vornehmen.

WELT AM SONNTAG: Vor allem die Folgen des Jahres 2015 haben die Bevölkerung aufgewühlt. Sie haben die rechtsextreme Szene aufgeheizt. Wie groß ist das Problem?

Seehofer: Der Rechtsextremismus ist neben dem islamistischen Terrorismus mittlerweile die größte Bedrohung in unserem Land. Die Gewaltbereitschaft in der rechtsextremen Szene ist hoch. Ich möchte das Bundeskriminalamt und das Bundesamt für Verfassungsschutz deshalb personell sowie organisatorisch stärken und mit den notwendigen gesetzlichen Kompetenzen versehen. Wichtig ist die enge Zusammenarbeit zwischen Bund und Ländern. Außerdem wollen wir im Netz aktiver werden: Die Provider sollen nach meiner Vorstellung künftig dem BKA Hass-Postings aktiv mitteilen, wenn diese einen Straftatbestand erfüllen. Wenn sich der Verdacht bestätigt, sollen die Unternehmen uns die Bestandsdaten des Nutzers mitteilen. Ich bin froh, dass die Bundesjustizministerin meine Idee bereits aufgegriffen hat. Wir können den Hass im Internet nicht einfach dulden - Hass hat mit Meinungsfreiheit nichts zu tun.

WELT AM SONNTAG: Man weiß vorher nur selten, wen man bekämpft. Umfragen zeigen, dass viele Menschen der Meinung sind, man dürfe seine Meinung nicht mehr frei äußern. Befördern Sie das nicht mit immer umfassenderen Eingriffen?

Seehofer: Nach der Ermordung von Walter Lübcke habe ich mir die Kommentare im Internet durchgelesen. In meiner ganzen politischen Laufbahn habe ich noch nie erlebt, dass in einem solchen Ausmaß das Opfer verhöhnt
und der mutmaßliche Täter gefeiert wird. Dagegen muss sich ein Rechtsstaat wehren.

Das Interview führten: Manuel Bewarder, Joahnnes Boie, Ricarda Breyton und Jaques Schuster.