"Ich verneige mich vor dem Mut der Ostdeutschen"

Typ: Interview , Datum: 03.10.2019

Die Wiedervereinigung ist für Heimatminister Horst Seehofer "mit Abstand das schönste Erlebnis in meinem Leben". Sein Versprechen: In zehn Jahren gibt es im Westen und Osten gleiche Lebensverhältnisse.

BILD AM SONNTAG vom 03.10.2019

Horst Seehofer (CSU) ist durch und durch Westdeutscher. Privat lebt er in seiner Geburtsstadt Ingolstadt, auch sein Ferienhaus steht in Bayern (Altmühltal). Beruflich ist er als Bundesheimatminister seit zwei Jahren auch für die Ostdeutschen zuständig. Wir treffen ihn im Ministerbüro zum Gespräch. Dort hängt übrigens keine bayerische Fahne, sondern die Deutschland-Flagge.

BILD am SONNTAG: Herr Seehofer, wo waren Sie, als die Mauer fiel?

HORST SEEHOFER: Ich war damals Staatssekretär bei Norbert Blüm und saß an jenem Nachmittag im provisorischen Bundestag in Bonn, dem Wasserwerk. Da sickerte die Nachricht durch: Die Mauer ist offen. Das musste erst einmal geprüft werden. Als sich herausstellte, dass es stimmte, erhob sich der gesamte Bundestag und sang die Nationalhymne. Das war ein erhebendes Gefühl, wie ich es in meiner ganzen politischen Laufbahn nie erlebt habe. Die Wiedervereinigung ist mit Abstand das schönste Erlebnis in meinem Leben.

BILD am SONNTAG: Hatten Sie als junger Politiker den Mauerfall für möglich gehalten?

SEEHOFER: Ja! Das gehörte zu unserer Grundüberzeugung. Für Franz Josef Strauß war das zentrale Lebensziel die Wiedervereinigung unseres Vaterlandes. Dafür hat die CSU viel getan: zum Beispiel der Nato-Doppelbeschluss Anfang der Achtzigerjahre zur Abwehr einer nuklearen Übermacht des Warschauer Paktes im Kalten Krieg. Das war ein Beitrag, der den wirtschaftlichen Niedergang der DDR weiter beschleunigt hat.

BILD am SONNTAG: Nun ja, Strauß hatte enge Kontakte zum DDR-Staatsratsvorsitzenden Erich Honecker und hat ihm 1983 einen Milliardenkredit gegeben. Damit hat er die marode DDR-Diktatur doch sogar stabilisiert.

SEEHOFER: Strauß hat gegen das System der DDR gekämpft. Gleichzeitig hat er dafür gesorgt, dass durch Kontakte die Lage der Menschen in der DDR verbessert wurde. Das schließt sich nicht aus. Bis heute vertrete ich das Prinzip, dass jeder Politiker bei internationalen Kontakten Unrecht anprangern und zugleich Maßnahmen unterstützen sollte, die die Lebenssituation der Menschen verbessern.

BILD am SONNTAG: Haben Sie eigentlich Ihre Stasi-Akte gelesen?

SEEHOFER: Ich habe einen Antrag gestellt. Ich bekam die Mitteilung, dass über mich keine Erkenntnisse vorliegen. Und das, obwohl ich damals als 20-Jähriger mit der Jungen Union über die Transitautobahn auch nach Ost-Berlin gefahren bin. Bei den Kontrollen waren wir allerdings immer mausestill.

BILD am SONNTAG: Was fällt Ihnen als Erstes ein, wenn Sie an Ostdeutschland denken?

SEEHOFER: Ich denke zuallererst an die Menschen, die 1989 auf die Straße gegangen sind. Vor dem Mut der Ostdeutschen verneige ich mich! Wir verdanken den Mauerfall diesen Menschen, die bei der friedlichen Revolution eine riesige Courage bewiesen haben. Durch die Überwindung der deutschen Teilung können heute alle Deutschen in Freiheit in einem geeinten Europa leben.

BILD am SONNTAG: Heute sind allerdings viele Ostdeutsche enttäuscht.

SEEHOFER: Mit der Wiedervereinigung haben wir Historisches erreicht. Wir dürfen uns aber nicht zurücklehnen. Ich nehme die Enttäuschung der Menschen sehr ernst, daher ist es umso wichtiger, bei dem diesjährigen Jubiläum in Erinnerung zu rufen, was die ostdeutsche Bevölkerung geleistet hat.

BILD am SONNTAG: Ist der Frust im Osten also berechtigt?

SEEHOFER: Wir haben fraglos große Fortschritte gemacht, in der Wirtschaft, den Finanzen, der Infrastruktur. Das war eine gemeinsame Kraftanstrengung von Ost und West, die wir auch würdigen sollten. Was bleibt, ist die Aufgabe, für gleichwertige Lebensverhältnisse überall in Deutschland zu sorgen. Dafür brauchen wir eine aktive Strukturpolitik, um die Infrastruktur so zu verbessern, dass jeder dort leben kann, wo er möchte. Schulen, Krankenhäuser, Arbeitsplätze müssen in zumutbarer Entfernung erreichbar sein. Nur dann ziehen die Menschen nicht aus den Dörfern weg. Wir machen dabei Fortschritte: Zum Beispiel ziehen mittlerweile mehr Menschen zurück in die neuen Bundesländer als von dort abwandern.

BILD am SONNTAG: Viele Ostdeutsche fühlen sich als Menschen zweiter Klasse ...

SEEHOFER: Ich erlebe die Menschen dort als fleißig, reformbereit und zuversichtlich. Sie haben viel für unser vereintes Deutschland getan und unsere Politik wendet sich den Menschen in Ost genauso zu wie in West, Süd oder Nord.

BILD am SONNTAG: In Ostdeutschland wird das Regieren für die Union immer schwieriger, weil die AfD bei den Landtagswahlen so erfolgreich ist. Wie lange sind Koalitionen zwischen Union und AfD noch ausgeschlossen?

SEEHOFER: Mit solchen Leuten kann man nicht regieren, weder jetzt noch in Zukunft.

BILD am SONNTAG: Wie erklären Sie sich den Erfolg der AfD?

SEEHOFER: Die AfD hat keine Lösungsansätze. Alles, was sie macht, ist zu emotionalisieren und zu polarisieren. Wenn wir den Menschen konkrete Perspektiven für ihre Zukunft aufzeigen und mit den Menschen reden, dann werden wir den Spuk der Rechtspopulisten überwinden.

BILD am SONNTAG: Was heißt das denn konkret?

SEEHOFER: Eine gute Infrastrukturpolitik: Wir verlagern gerade sehr viele Behörden und Institutionen in die neuen Bundesländer. Nehmen wir das Beispiel Sachsen: In Görlitz entsteht eine Polizeischule für Fremdsprachenausbildung und lebensbedrohliche Einsatzlagen, nach Sachsen kommen 500 zusätzliche Bundespolizisten. In Freital schaffen wir eine Außenstelle des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, am Flughafen Leipzig /Halle eine Agentur für Cybersicherheit.

BILD am SONNTAG: Und die wichtigste Zukunftsentscheidung, das Batterieforschungszentrum geht nach NRW ...

SEEHOFER: Die Strukturpolitik zielt auf das ganze Land ab. Die Bedarfe bestehen nicht nur in Ostdeutschland. Es gibt da eine ganze Reihe von Überlegungen, auch in NRW.

BILD am SONNTAG: Wie lange wird es dauern, bis wir überall in Deutschland gleichwertige Lebensverhältnisse haben?

SEEHOFER: Wir gehen von einem Jahrzehnt aus, bis wir gleichwertige Lebensverhältnisse in ganz Deutschland haben. Das gilt nicht nur für die neuen Bundesländer, sondern auch für strukturschwache Regionen in anderen Teilen Deutschlands. Denken Sie an Bayern: Wir waren einmal ein armes Bundesland, das bis zur deutschen Einheit finanzielle Unterstützung von den anderen Bundesländern bekam. Heute zahlt Bayern über 50 Prozent des Länderfinanzausgleichs. Das zeigt: Mit einer konsequenten Strukturpolitik kann man alles erreichen! Nehmen wir das Beispiel Sachsen: In Görlitz entsteht eine Polizeischule für Fremdsprachenausbildung und lebensbedrohliche Einsatzlagen, nach Sachsen kommen 500 zusätzliche Bundespolizisten. In Freital schaffen wir eine Außenstelle des Bundesamtes für Sicherheit in der Informationstechnik, am Flughafen Leipzig /Halle eine Agentur für Cybersicherheit.

BILD am SONNTAG: Welche ostdeutsche Persönlichkeit bewundern Sie?

SEEHOFER: Angela Merkel hat sehr viel für unser Land geleistet. Daneben habe ich die "Runden Tische" der Bürgerrechtler in der Wendezeit bewundert. Sie haben innerhalb nur eines Jahres die Vereinigung gemeistert.

Das Interview führten: Miriam Hollstein und Burkard Uhlenbroich