Die Asylpolitik ist die Achillesferse Europas

Typ: Interview , Datum: 23.04.2019

Ein Interview mit Bundesinnenminister Horst Seehofer zur Asylpolitik und Europa

Neue Züricher Zeitung

Der deutsche Innenminister Horst Seehofer sieht Europa nach wie vor meilenweit von einem wirksamen Aussengrenzschutz entfernt. Beim Thema Abschiebungen kündigt er an, hartnäckig zu bleiben. Er sei erst zufrieden, wenn in Deutschland mehr Ausschaffungen durchgeführt als abgebrochen würden.

Herr Seehofer, beginnen wir mit einer hypothetischen Frage: Wenn es jetzt noch einmal eine Flüchtlingskrise wie 2015 gäbe, wäre Deutschland dann besser vorbereitet als damals?

Wir wären entschieden besser vorbereitet, denn mittlerweile haben wir ja Erfahrung. Allerdings müsste man dann auch manches anders machen: an der Grenze Transitzentren einrichten, dort sofort die Identität der Ankommenden klären und so schnell wie möglich Asylverfahren durchführen, damit man noch an der Grenze Klarheit über die Identität eines Menschen und seinen Schutzstatus hat.

Reden Sie von der deutschen Grenze oder von der europäischen?

Ich spreche von der deutschen Grenze. In Europa sind wir noch meilenweit von einem wirksamen Aussengrenzschutz entfernt. Wenn jetzt ein ähnlicher Ansturm stattfände wie 2015, würde sicher nicht das Gleiche passieren wie damals, denn wir haben schon jetzt zahlreiche Massnahmen ergriffen, um einen Kontrollverlust zu vermeiden. Aber über einige Wochen hinweg würden wir das nur durchhalten, wenn wir an der Grenze das umsetzten, was ich anfangs genannt habe.

Also durch nationale Massnahmen, nicht durch eine funktionierende europäische Asylpolitik.

Die Asylpolitik ist die Achillesferse Europas. Ich bin mit allen Poren Europäer. Aber auf den letzten Innenministerräten habe ich gesehen, dass vor der Europawahl auf keinen Fall noch eine Lösung zu erwarten ist. Ich sage ausdrücklich: leider. Die europäische Lösung mit einem reformierten europäischen Asylsystem und wirkungsvollem Aussengrenzschutz wäre die Ideallösung.

Welchen Stellenwert hat der Flüchtlingsdeal mit der Türkei? Wenn der wegbrechen würde, wäre der Südosten dann komplett offen?

Es gab ja zwei Massnahmen nach der Grenzöffnung im September 2015, die das Ganze wieder beherrschbar gemacht haben. Zum einen die EU-Türkei-Erklärung, die nach wie vor von grosser Bedeutung ist. Zum andern die Schliessung der Balkanroute, insbesondere durch Österreich und Mazedonien. Ich glaube kaum, dass man eine Grenze hätte dichtmachen können, wenn Tausende neu nachgekommen wären.

Trotz diesen Problemen macht die EU mit dem Aussengrenzschutz nicht vorwärts. Frontex soll erst bis 2027 auf 10 000 Mann ausgebaut werden. Reicht das überhaupt?

Erstens hätte ich die 10 000 Mann gern früher als 2027, nämlich zu Beginn der nächsten Dekade, etwa 2022. Aber früher als 2027 ist das mit unseren europäischen Partnern nicht zu machen. Zweitens dürfen Sie ja nicht nur die 10 000 Frontex-Beamten zählen. Diese arbeiten immer auch mit nationalen Polizeien zusammen. Insofern ist 10 000 doch eine Grössenordnung, die hochwirksam wäre, wenn sie denn erreicht wird.

Ein anderes Thema in der Asylpolitik sind die Abschiebungen, die nach wie vor nicht funktionieren. Sie sagen, 230 000 Leute seien in Deutschland vollziehbar ausreisepflichtig. Warum finden Sie hier keine Lösung?

Ich bin erst zufrieden, wenn wir mehr Abschiebungen durchführen als abgebrochen werden müssen. Aber dafür sind in erster Linie die Bundesländer zuständig. Manche Länder schieben nach Afghanistan entweder gar niemanden oder nur Straftäter ab. Dann gibt es eine rechtliche Lücke, die wir nun mit einem Gesetzentwurf schliessen wollen: Wer keine Papiere hat, soll künftig stärker in die Pflicht genommen werden, sich darum zu kümmern. Und wir wollen die Haftmöglichkeiten so erweitern, dass jemand, der für die Abschiebung vollziehbar vorgesehen ist, auch zeitnah in Gewahrsam genommen werden kann. Derzeit tauchen viele am Tag der geplanten Abschiebung unter. Wir müssen also die rechtlichen Grundlagen verbessern, und wir brauchen mehr Konsequenz bei den Bundesländern. Wenn wir derzeit einen Abschiebe-Sammelflug nach Afghanistan durchführen, wären die Maschinen ohne Bayern deutlich leerer. Das ist die Realität.

Von Ihren ursprünglichen Plänen für das "Geordnete-Rückkehr-Gesetz" ist allerdings nicht viel übrig geblieben. Woran sind Sie gescheitert?

Was wir jetzt erreicht haben, ist im höchsten Masse zufriedenstellend. Der Gesetzentwurf, wie er vom Bundeskabinett am Mittwoch beschlossen wurde, enthält zahlreiche Regelungen zur Verbesserung der Rückkehrpraxis. Er geht inhaltlich um ein Vielfaches über rechtliche Änderungen aus der letzten Legislaturperiode hinaus.

Ihr Parteikollege Alexander Dobrindt hat einmal von der "Anti-Abschiebe-Industrie" gesprochen. Wären nicht auch Massnahmen nötig gegen diejenigen, die Abschiebungen sabotieren?

Dobrindt ist ein guter Freund von mir und ein guter Analytiker. Trotzdem will ich mich zu seiner Wortwahl nicht äussern, da dies von unseren politischen Gegnern sofort verzerrt würde. Aber wenn ich mir die Listen derer anschaue, die nach Afghanistan abgeschoben werden, dann sind das in ganz hohem Mass Straftäter, darunter nicht wenige Kapitalverbrecher. Ich habe null Verständnis dafür, dass dann am Flughafen Demonstrationen gegen solche Abschiebungen stattfinden.

Von den Kirchen wurden Sie wegen Ihrer Haltung in Asylfragen immer wieder kritisiert. Berührt Sie das als Politiker einer christlichen Partei?

Mein Gott, wir haben halt unterschiedliche Aufgabenstellungen, die christlichen Kirchen und ein Politiker, der als Minister unterwegs ist. Manche mögen das für altmodisch halten, aber ich unterscheide immer noch zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik. Dass die Kirchen von ihrer Aufgabe her immer gesinnungsethisch vorgehen, also für die Armen, die Schwachen und die Flüchtlinge eintreten, dafür habe ich Verständnis. Ich erwarte aber auch Verständnis für Politiker, die in der Verantwortung stehen.

Auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise wuchs in Deutschland die Angst vor Terrorakten. Nun ist relativ lange nichts passiert. Wie schätzen Sie die Sicherheitslage ein?

Was Terroranschläge betrifft, steht Deutschland weiterhin im Fokus von Extremisten. Das bedeutet, dass jederzeit und an jedem Ort ein Anschlag erfolgen kann. Letztes Jahr haben unsere Sicherheitsbehörden in über einem Dutzend Fällen geplante Anschläge frühzeitig enttarnt und dadurch verhindert. Da bin ich sehr zufrieden. Doch absolute Sicherheit kann ich nicht versprechen. Linksextremismus und Rechtsextremismus, die Familienclans, die organisierte Kriminalität, all das erfordert unsere höchste Aufmerksamkeit.

Sie nannten linken, rechten und islamistischen Extremismus. Was macht Ihnen am meisten Sorgen?

Gefährlich sind sie alle. Momentan macht mir der Rechtsextremismus aber am meisten Sorgen. Als Ministerpräsident gehörte ich ja zu denen, die sich dafür einsetzten, die rechtsextreme NPD zu verbieten. Dabei waren wir durchaus erfolgreich, auch wenn es am Ende nicht zu einem Verbot kam: Die Partei kann sich nun immerhin nicht mehr aus Staatsmitteln finanzieren.

Sie sagten einmal, es sei eine Unterlassungssünde, dass sich der Westen in Syrien nicht militärisch engagiert habe. Zielte Ihre Bemerkung nur auf Amerika oder auch auf Deutschland und Europa?

Vor allem auf Amerika. Ich habe ja als Ministerpräsident mehrfach Wladimir Putin besucht. Der hat mir bei meinem ersten Besuch erzählt, wie Barack Obama ihm eine Botschaft wegen Syrien zugesagt habe. Doch dann hat sich Obama nicht mehr gerührt, weil er nicht mehr die Rolle des Weltpolizisten einnehmen wollte.

Aber die Versäumnisse liegen doch beim Westen insgesamt, nicht nur bei den Amerikanern.

Dass sich Amerika neu orientiert hat, war schon entscheidend. Genauso wie ich Europäer bin, bin ich auch Transatlantiker. Ich bedaure den Rückzug der Amerikaner. Gelegentlich wurde ich ja in ein ganz anderes Licht gerückt, weil ich sehr gute Beziehungen mit Moskau habe. Das lag auch daran, dass Bayern sehr enge wirtschaftliche Beziehungen nach Russland unterhält. Ganz Osteuropa ist für Bayern ja ein wichtiger Raum. Als ich dann zweimal nach Ungarn fuhr, war ich angeblich schon der Freund Viktor Orbans. Aber es liegt in unserem Interesse, mit diesen Ländern im Gespräch zu bleiben. Wer sprachlos ist, kann gar nichts erreichen.

Sie haben Putin mehrfach getroffen, und Sie verstehen sich gut mit Orban. Offenbar gelingt es Ihnen, gute Beziehungen mit Leuten aufzubauen, um die andere deutsche Politiker lieber einen Bogen machen.

Ich war auch sehr häufig in China, Bayern hat Partnerschaftsprovinzen dort. Deswegen bin ich noch lange kein Edelkommunist. Die Antwort auf die Unzahl von Konflikten in unserer Welt muss der Dialog sein. Man muss Putin aber auch sagen, dass die Annexion der Krim völkerrechtswidrig ist, auch wenn die Gesprächsatmosphäre dann für einige Minuten abkühlt.

Sehen Sie sich als Anwalt Osteuropas?

Ich entschuldige mich jedenfalls nicht für meine Kontakte zu Orban. Seine Biografie finde ich bemerkenswert. Er hat gegen die Kommunisten gekämpft, als wir hier alle bequem im Sessel sassen. Und er tat das auch aus einer christlichen Überzeugung heraus. Ich bin nicht bereit, Orban als Demokraten infrage zu stellen. Dass er in manchen Punkten, etwa bei seiner Kampagne gegen die EU, überzogen hat, ist klar. Das passiert uns Politikern hier in Deutschland doch auch ab und zu. Wir tun immer so, als würden wir vollkommen fehlerfrei durch die Welt wandeln.

Wie würden Sie den Zustand der EU beschreiben? Was die Asylpolitik angeht, klangen Sie sehr pessimistisch. Grossbritannien will die EU verlassen, Polen und Ungarn verabschieden sich von den gemeinsamen Werten.

Diese Friedens- und Wertegemeinschaft Europa ist doch ohne jede Alternative. Die Zustimmung zu Europa in der Bevölkerung ist ja durchaus noch da. Die Menschen sehen jetzt ja in Grossbritannien, wohin es führt, wenn man aus einer Laune heraus die Entscheidungen für einen EU-Austritt trifft.

Der französische Präsident Emmanuel Macron macht Vorschläge, die auf eine Verdichtung der EU hin zum Bundesstaat hinauslaufen. Wie finden Sie das?

Ich bin ein grosser Gegner eines Bundesstaates Europa. Es gibt jedoch Aufgaben, bei denen man sich durchaus vorstellen kann, dass die Europäer hier stärker zusammenwirken. Umgekehrt gibt es aber auch Dinge, die für mich regional besser aufgehoben sind. Die Vertretung unserer wirtschaftlichen Interessen, wie wir es jetzt gegenüber den Amerikanern tun, kann nur die EU erledigen. Da ist ein Nationalstaat bedeutungslos. Das gilt genauso für Sicherheit und Klimaschutz, um nur die Megathemen unserer Zeit zu nennen. Aber die kulturelle Vielfalt oder die Bildungspolitik, die sind in den Regionen besser aufgehoben. Das gilt im Übrigen auch innerhalb Deutschlands.

Wie geht es der grossen Koalition?

Sie funktioniert. Aber über den Bestand einer Regierung entscheiden immer Wahltage, nicht die Zeit dazwischen.

Und bei der Europawahl Ende Mai steht die Koalition auf dem Spiel?

Ich würde es nicht gleich so drastisch formulieren, aber es ist ein wichtiges Prüfdatum.

Vor allem für die SPD.

Für alle Beteiligten, die schwach abschneiden. Wenn die Union 29 Prozent erhält, wie derzeit einige Umfragen voraussagen, würde das für die CDU noch einmal eine Verschlechterung bedeuten und für die CSU genauso.

Manfred Weber, der Spitzenkandidat der Europäischen Volkspartei, sollte sich für die CSU doch als Zugpferd erweisen.

Deswegen ist er ja aufgestellt worden. Bei der letzten EU-Wahl 2014 war doch die Tatsache, dass Martin Schulz Deutscher ist, für die SPD förderlich. Viele Leute sagten: Wenn wir schon einen Deutschen als Spitzenkandidaten für ganz Europa haben, muss man ihn auch wählen. Deswegen hoffe ich auf Weber. Aber wenn es dann nicht so kommt, gibt es wieder Diskussionen. Ich verstehe da unsere Anhänger sogar: Die wollen den Erfolg. Das ist wie beim Sport.

Sie halten sich ja erstaunlich gut an der Macht. Was ist Ihr Rezept zum politischen Überleben?

Unabhängigkeit.

Tatsächlich?

Sie werden bei mir kein Netzwerk finden, in meinem ganzen Leben nicht. Trotzdem hat sich eins ums andere ergeben. Das Innenministerium ist jetzt ein schöner Abschluss.

Fühlen Sie sich lockerer, weil Sie nicht die Ambitionen haben, jetzt noch fünf weitere Ämter anzuhäufen?

Das ist so. Wenn Sie 30 Jahre alt sind und die ganze berufliche Laufbahn noch vor Ihnen steht, haben die Dinge, die Sie täglich tun, doch eine ganz andere Bedeutung, als wenn Sie 70 sind. Der grösste Irrtum ist es dann, zu glauben, ohne einen gehe es nicht weiter.

Hat Annegret Kramp-Karrenbauers Wahl zur CDU-Chefin eine neue Dynamik in das Verhältnis der beiden Schwesterparteien CDU und CSU gebracht?

Wir haben jetzt jedenfalls auf beiden Seiten neue Parteichefs: Kramp-Karrenbauer und Markus Söder. Ich glaube, unsere Mitglieder sind ganz zufrieden. Aber ich möchte meinen Nachfolger nicht öffentlich bewerten. Das gehört für mich zum Anstand in der Politik. Ein Nachfolger sollte sich nicht mit seinem Vorgänger beschäftigen und umgekehrt.

Daniel Günther, der christlichdemokratische Ministerpräsident von Schleswig-Holstein, sagte nach der bayrischen Landtagswahl, jetzt sei es mit dem Sonderstatus der CSU vorbei.

2008, als ich zum ersten Mal zu einem Ministerpräsidententreffen nach Berlin kam, hat der damalige Ministerpräsident Niedersachsens, Christian Wulff, vor allen Amtskollegen zu mir gesagt, jetzt sei Schluss mit der Sonderrolle der CSU. Ich dachte mir: Mutig. Das sind Äusserungen, die auf keine grosse Erfahrung schliessen lassen. Solange ich Politik betreibe, werde ich alles tun, damit diese Sonderrolle erhalten bleibt.