"Das Wahlergebnis muss man akzeptieren"
Interview 26.09.2018
Der Bundesinnenminister über die Abwahl von Unions-Fraktionschef Kauder, die Aufgeregtheiten in Berlin, kleinkarierte Politik und den Kampf für ein gutes Wahlergebnis in Bayern.
Handelsbaltt
Das Interview führten: Sven Afhüppe, Silke Kersting und Moritz Koch.
Auf dem Schreibtisch des Ministers liegt der Koalitionsvertrag, gebunden, akkurat mit dem Buchrücken auf der Tischkante. Ordnung, das sieht man gleich, ist Horst Seehofer wichtig. Orientierung auch. Die Koalition hat sich viel vorgenommen und der Innenminister ganz besonders. Seehofer will den Streit der vergangenen Wochen hinter sich lassen, nach vorn schauen. Er fühlt sich missverstanden, zu Unrecht angefeindet, von den Medien und der SPD. Kurz vor Andruck der Zeitung wird Unions-Fraktionschef Volker Kauder völlig überraschend abgewählt. Der Schock sitzt tief, Seehofer schickt eine kurze Einschätzung.
Herr Minister, bei der Wahl zum Fraktionsvorsitzenden der Union hat Amtsinhaber Volker Kauder eine überraschende Niederlage gegen Herausforderer Ralph Brinkhaus einstecken müssen. Viele Abgeordnete haben mit der Wahl der Kanzlerin ganz offenbar einen Denkzettel verpassen wollen. Was bedeutet dieses Ergebnis für den Fortbestand der Großen Koalition?
Das Verfahren war fair. Es gab zwei leidenschaftliche Plädoyers der beiden Kandidaten. Das anschließende Wahlergebnis hat man zu akzeptieren.
Ein führender Unionspolitiker hat kürzlich gesagt: "Das größte Problem der Bundesregierung ist nicht das, was sie macht, sondern ihr Politikstil." Raten Sie mal, von wem dieser Satz stammt?
Vom Bundestagspräsidenten?
Nein, von Manfred Weber, Ihrem Parteikollegen.
Das überrascht mich, wenn er es so gesagt hat.
Warum? Anlass gibt es doch genug!
Die Große Koalition hat in den vergangenen drei Wochen eine Vielzahl von Themen erfolgreich abgearbeitet, bei der Rente, in der Arbeitslosenversicherung, beim Mieterschutz, bei der Wohnraumoffensive. Da braucht es für mich keine Aufforderung, zur Sacharbeit zurückzukehren.
Das zeigt doch, dass der Streit um Flüchtlinge oder der Fall Maaßen alles andere überlagert.
Bei der Flüchtlingsfrage hat es doch zuletzt jede Menge Sacharbeit gegeben.
Aber immer noch nicht gelöst.
Das Thema ist nicht gelöst, das ist richtig. Aber die kontroverse Diskussion, die wir im Frühsommer geführt haben, die ist Geschichte. Jetzt sind wir im September. Und da haben wir am laufenden Band für die Menschen wichtige Dinge verabschiedet, im Kabinett, im Bundestag. Das sind echte Erfolge, über die wir viel zu wenig sprechen. Das ist ein riesiges Problem, diese Selbstverzwergung schwächt die Große Koalition und hilft nur der AfD.
Der Fall Maaßen war im Stil nicht zu beanstanden?
Es gab ein Interview, das Interview hat Diskussionen ausgelöst, worauf sich der Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz dem Innenausschuss gestellt hat. Es gab niemanden, der in dem Moment Herrn Maaßens Rücktritt gefordert hat. Aber am nächsten Tag hat die SPD eine Kampagne eröffnet - auch gegen mich.
Hat da eine Hetzjagd gegen Sie stattgefunden?
Die ganze Debatte war völlig unnötig. Ich hoffe nun, dass die Entscheidung, Herrn Maaßen wegen seiner hohen Fachkompetenz hier im Hause als Berater weiter zu beschäftigen, endgültig ist.
Die Bundestagswahl liegt genau ein Jahr zurück. Seither ist das Land gereizt wie selten.
Kein Wunder, bei dieser Aufgeregtheit im politischen Berlin. Da sieht Politik für die Leute sicher oft sehr kleinkariert aus. Das muss sich ändern.
Aber es waren doch gerade Ihre Statements, die den Koalitionskrach befeuert haben. Beispiel Chemnitz und der Streit um den Begriff der Hetzjagd.
Was ich dazu gesagt habe, hat die Polizei in Sachsen gesagt, der dortige Innenminister und der Ministerpräsident von Sachsen auch. Mit denen habe ich telefoniert. Und ich hatte keine Veranlassung, von Berlin aus eine andere Lageeinschätzung abzugeben.
Im Kanzleramt hat man die Dinge anders bewertet.
Das ist Vergangenheit.
Die Kanzlerin hat inzwischen Fehler im Fall Maaßen eingeräumt. Haben nicht auch Sie Fehler gemacht?
Das Ganze war unnötig. Das kann ich uneingeschränkt sagen. Sonst hätte man es nachher auch nicht korrigieren müssen. Aber nun sind die Irritationen ja vorbei und auch schon wieder Geschichte.
Frau Nahles widerspricht Ihnen schon wieder …
Um den Fall Maaßen zu lösen, gab es zu Beginn drei Konzepte, darunter, dass Maaßen Berater bei mir im Innenministerium wird.
Das Bild, das bei der Bevölkerung ankommt, ist: Die Koalition ist zerstritten wie selten eine Regierung zuvor. Wie soll das noch dreieinhalb Jahre weitergehen?
Es wird gut weitergehen, wenn solche Überflüssigkeiten vermieden werden.
Das ist kaum zu erwarten.
Doch. Immer wenn es um Sachthemen geht, ist die Koalition absolut handlungsfähig. Und auch mit guten Ergebnissen, die dieses Land voranbringen, keine faulen Kompromisse. Ich bin da guten Mutes. Die Koalition ist weitaus besser, als sie sich selbst darstellt.
An allen Dissonanzen, die es in diesen sechs Monaten Regierungszeit gab, waren Sie beteiligt. Wie erklären Sie sich das?
Ich habe die Diskussion um Herrn Maaßen nicht angezettelt. Es gab keinen Grund für eine Entlassung von Herrn Maaßen, weil ihm kein Dienstvergehen vorzuwerfen ist.
Wie ist Ihr Verhältnis zur Kanzlerin nach den letzten Tagen?
Völlig unproblematisch. Wir sitzen manchmal beieinander, und dann sagt sie: Das würde uns doch keiner glauben, dass wir jetzt so miteinander reden.
Es ist der Koalition bisher nicht gelungen, den Aufstieg der AfD zu bremsen. Warum nicht?
Wenn man eine Kampagne gegen den Chef einer Sicherheitsbehörde lostritt, ist das wieder ein Beitrag zur Stärkung einer solchen Protestpartei.
Jetzt reden Sie wieder über Maaßen. Was ist mit der AfD?
Gegen die AfD gibt es nur ein Mittel: von Grund auf konsequent das lösen, was die Bevölkerung bewegt. Was die Asyl- und Flüchtlingspolitik betrifft, ist unsere Orientierung klar: Humanität auf der einen Seite, Ordnung und Begrenzung auf der anderen. Bei uns werden die Menschen anständig behandelt. Es gibt null Toleranz gegenüber Hetze, dumpfen Parolen, Antisemitismus und Rechtsradikalismus. Aber wir brauchen auch Ordnung im Land. Und da haben wir in Deutschland in den vergangenen sechs Monaten einiges verändert. Was wir jetzt noch brauchen, ist
ein europäisches Regelwerk zur Migration.
Der Flüchtlingsdeal mit Italien sollte längst unter Dach und Fach sein.
Mein Abkommen mit Italien ist fertig, unterschriftsreif. Aber jetzt kommt von der italienischen Regierung das Draufsatteln: Wir können das nur unterschreiben, wenn die Flüchtlingsverteilung und die Seenotrettung auch mitgelöst wird. Das ist jetzt eine Angelegenheit auf europäischer Ebene, die die Regierungschefs betrifft.
Ist das mit Nacharbeiten noch zu retten?
Ja. Es gibt Abkommen zur Zurückweisung an der Grenze mit Spanien, mit Griechenland. Daneben gibt es Abkommen zur schnelleren Rücküberstellung im Rahmen von Dublin mit Frankreich und Portugal. Ganz stillschweigend. Es interessiert niemanden, wenn es funktioniert.
Überall in Europa erstarken die Populisten. Wie sehr besorgt Sie die Lage der EU?
Ein starkes Europa braucht auch starke Nationalstaaten. Deswegen ist es nicht per se anrüchig, wenn man die Interessen der eigenen Bevölkerung im Blick hat. Aber natürlich ist die europäische Integration die genialste Idee der Nachkriegsgeschichte. Es wäre gut, wenn wir schnell ein Regelwerk für die Migration zustande bekämen - selbst um den Preis, dass nicht alle Länder an einem Strang ziehen.
Was heißt das konkret? Ein Europa der zwei Geschwindigkeiten?
Wir können jedenfalls nicht darauf warten, dass alle 27 Länder alles gleichzeitig und identisch machen. Solange man darauf wartet, kommt überhaupt keine Lösung zustande.
Sie haben immer Kontakt zu Viktor Orbán, der eine Einigung in der Flüchtlingspolitik blockiert und den ungarischen Rechtsstaat untergräbt. Jetzt hat das EU-Parlament ein Verfahren gegen Ungarn in Gang gesetzt. Halten Sie Orbán weiter die Treue?
Ich bin dafür, dass wir unsere Probleme im Dialog lösen. Viktor Orbán ist dreimal von seiner Bevölkerung gewählt worden, davon zweimal mit absoluter Mehrheit. Das sollte man respektieren. Die ganzen Spannungen, die wir global haben - ich nenne beispielhaft den Handelsstreit mit den Vereinigten Staaten, den Brexit, Syrien, Russland, die Ukraine - die werden doch nicht durch eine Verhärtung gelöst, sondern nur durch Dialog. Das gilt übrigens auch für Wladimir Putin. Man muss ausreichend miteinander sprechen und versuchen, Probleme zu lösen.
Zurück zur Innenpolitik: Der Wohngipfel der Bundesregierung hat viele Absichtserklärungen produziert. Aber was tut die Regierung konkret?
Wir haben einen ganzen Strauß von Maßnahmen beschlossen; die werden was bewirken! Das Baukindergeld ermöglicht Familien die eigenen vier Wände. Das ist in Kraft, rückwirkend zum Anfang des Jahres. 12 000 Euro pro Kind, bei drei Kindern 36 000 Euro. Hinzu kommt jetzt der soziale Wohnungsbau. Für den frei finanzierten Wohnungsbau gibt es von Januar 2019 an vier mal fünf Prozent Abschreibung- mit den zwei Prozent, die wir schon haben, summiert sich das auf 28 Prozent.
Und die Finanzierung steht?
Natürlich, das Geld hat der Finanzminister bewilligt. Und für die Städtebauförderung eine weitere Milliarde Euro, nicht nur für die großen, gerade auch für die kleinen und mittleren Städte. Auch für die Revitalisierung der Ortskerne ist die Finanzierung gesichert. Weiter geht es mit der Beschleunigung und Entbürokratisierung der Bauverfahren. Wir müssen die Städte verdichten, stärker in die Höhe bauen, Wohnungen sanieren, die nicht mehr vermietbar sind. Ich kann mich nicht erinnern, dass wir in den vergangenen 40 Jahren je eine so umfassende Offensive in den Wohnraum hatten.
Schon jetzt klagt die Bauwirtschaft, dass ihr die Fachkräfte fehlen.
Genau darum arbeiten wir ein Fachkräfte-Zuwanderungsgesetz aus. Da sind wir kurz vor dem Abschluss. Aber über all diese guten Sachen wird einfach viel zu wenig geredet. Da müssen wir besser werden.
Durch mehr Zuwanderung entsteht auch neuer Wohnungsbedarf.
Mir wird ja immer unterstellt, dass ich für Abschottung stehe, aber ich erzähle Ihnen jetzt mal was.
Wir sind gespannt.
Wir haben nach Deutschland aufgrund der Freizügigkeit in der EU jährlich eine Nettozuwanderung von 500 000 Personen. Hinzukommt meine Obergrenze von 200 000 Flüchtlingen. Dann haben wir die Blue Card, jährlich bis zu 150 000. Trotzdem bin ich dafür, dass wir eine Regelung für Fachkräfte aus nichteuropäischen Ländern beschließen. Das Gesetz werden wir noch dieses Jahr ins Kabinett bringen und im nächsten Jahr verabschiedet haben.
Aber ist es wegen des Fachkräftemangels nicht das falsche Zeichen, dass wir Asylbewerber abschieben, die hier arbeiten und gut integriert sind? Die Wirtschaft fordert einen Spurwechsel: Flüchtlinge, die kein Asyl erhalten, sollen eine zweite Chance als Fachkräfte erhalten.
Wenn wir sagen, dass jeder, der nach Deutschland kommt, hier arbeiten kann, dann haben wir es bald mit einem Flüchtlingsstrom nach Deutschland zu tun, den niemand so verantworten kann. Aber ich bin gern bereit, die Anwendung des geltenden Rechts der Arbeitsmöglichkeiten bundesweit zu vereinheitlichen. Da akzeptiere ich das Argument der Unternehmer, die sagen, das sei bisher alles zu unklar und zu schwerfällig. Bevor Menschen, die wir aus rechtlichen Gründen nicht abschieben können, herumsitzen, sollen sie lieber arbeiten. Das ist auch heute schon erlaubt. Wo liegt das Problem?
In der Unsicherheit für Geduldete und ihre Arbeitgeber. Sobald sich die Situation in den Herkunftsländern verbessert, droht die Abschiebung.
Schauen wir uns doch die Realität an: Wenn jemand jahrelang hier ist, Wurzeln geschlagen hat, arbeitet, seinen Lebensunterhalt bestreitet - da besteht doch kein großer Druck, diesen Menschen wieder zurückzuführen.
Als Heimatminister treten Sie für gleichwertige Lebensverhältnisse ein. Doch der Wohlstand spreizt sich regional immer stärker. Auch das ist ein Grund für die wachsende Zustimmung zur AfD.
Wir brauchen daher eine neue, langfristig angelegte Strukturpolitik. Wenn wir Regionen, die bei Mieten, Wohlstand und Lebenshaltungskosten unterdurchschnittlich sind, fördern, dann entlasten wir auch Städte, die überhitzen - München, Frankfurt, Stuttgart. Wir müssen in Bildungseinrichtungen in schwachen Regionen investieren, in die Infrastruktur, ein schnelles Internet. Das ist Politik - und nicht die Verfolgung eines Beamten.
Kann das auch die Botschaft sein, mit der Ihre Partei aus dem Umfragetief vor der Landtagswahl in Bayern herausfindet?
Ach ja, die Umfragen. Wir haben jetzt noch gut drei Wochen bis zur Wahl - ich bin sicher, dass da noch einiges passieren wird.
Die Frage war ernst gemeint: Was läuft schief in Bayern?
Es ist schon ein Phänomen: Bayern steht blendend da. Es ist eigentlich alles optimal. Trotzdem sind die Umfragen nicht zufriedenstellend. Das ist betrüblich. Da kommen Stimmungen zum Vorschein, die mit der objektiven Lage des Landes überhaupt nichts zu tun haben.
Haben Sie den Kampf schon aufgegeben?
Im Gegenteil: Wir haben nach wie vor eine realistische Chance auf ein gutes Wahlergebnis. So wie wir bei der Bundestagswahl in den letzten drei Wochen abgestürzt sind, so können wir jetzt umgekehrt auch noch deutlich zulegen. Die Menschen wollen überzeugt werden, dass man das richtige Politikangebot für sie hat.
Nur wie? Mit welchen Themen?
Ich stehe nicht zur Wahl. Ich habe den eisernen Grundsatz: Ich unterstütze Markus Söder, mische mich aber nicht in seine Kampagne ein.
Einige in der CSU haben Sie schon als Schuldigen ausgemacht.
Mit so etwas beschäftige ich mich nicht. Ich will, dass wir die Wahl gewinnen. Darum und um nichts anderes geht es jetzt.