Heimatliebe integriert
Interview 26.09.2018
Gastkommentar des Bundesinnenministers Horst Seehofer
Die Welt
Deutschland durchläuft eine Phase beschleunigten Wandels. Weltweite Wirtschaftsverflechtungen, Migration und Digitalisierung, aber auch der demografische Wandel erfordern es, umzudenken und neu zu steuern. Ballungszentren schwellen an, und ländliche Regionen veröden. Gewachsene Strukturen lösen sich auf, und Gewohntes verschwindet. Viele Menschen fühlen sich verunsichert. Wer im ländlichen Raum oder in wirtschaftsschwachen Kommunen vergeblich auf den Arzt, auf einen Internetzugang oder auf den Bus wartet, fühlt sich benachteiligt. In den Großstädten sind es Wohnungsmangel, das sich radikal verändernde Wohnumfeld, die fehlende Kinderbetreuung und die häufig gefühlte Angst vor Kriminalität, worunter die Menschen zunehmend leiden.
Dabei haben wir in Deutschland vielfach bewiesen, dass wir auch große Herausforderungen gemeinsam erfolgreich meistern können: Angefangen von Flucht und Vertreibung in den Gründungsjahren der Bundesrepublik bis hin zum Aufbau Ost nach der Wiedervereinigung haben wir es unter schwierigsten Voraussetzungen immer wieder geschafft, unser Land neu auzubauen, neu zu gestalten und die Basis für ein tragfähiges Zusammenleben zu finden. Ich bin überzeugt, dass dies auch heute gelingen kann, wenn wir alle gemeinsam auf unsere Gestaltungskraft vertrauen. Vor allem eine Eigenschaft kommt uns dabei sicherlich zugute: die enge emotionale Bindung an unsere Herkunft, unsere "Heimatliebe". Keine andere Sprache und Kultur kennt etwas Vergleichbares. In Amerika spricht man von der German Heimat und meint einen ganz besonderen Sehnsuchtsort damit.
Wie heimatverbunden wir Deutsche heute tatsächlich sind, zeigt eine repräsentative Erhebung, die vor Kurzem in meinem Auftrag durchgeführt wurde. Acht von zehn Befragten in Deutschland halten den Begriff "Heimat" für wichtig oder sehr wichtig. Nahezu alle gesellschaftlichen Gruppen empfinden Heimatgefühle, ob Jung oder Alt, ob aus Stadt oder Land, aus Nord oder Süd, Ost oder West.
Häufig sind es die Erfahrungen mit der Familie oder dem engsten Umkreis, die Identität stiften und Halt bieten. Vielen geht es dabei auch um die eigene Wohngegend und die Nachbarschaft, mit der man vertraut ist. Geteilte Werte, eine gemeinsame Sprache und soziale Sicherheit sind die Eckpfeiler des Heimatemfindes. Gefährdet sehen die Befragten ihr Heimatgefühl, wenn sich ihr soziales Umfeld oder ihr Wohnumfeld stark verändert. Verletzungen der Privatsphäre, Kriminalität und Werteverlust werden als Gefahren ebenso wahrgenommen wie ungesteuerte Zuwanderung.
Die Befragung zeigt im Übrigen auch: Die Zeiten, als Heimatgefühle in Deutschland vor allem mit Brauchtum und Vergangenheitsritualen verbunden waren, sind vorbei. Heimat wird nicht als Kulisse, sondern als Element aktiver Auseinandersetzung empfunden. Wenn die Politik in Deutschland das Vertrauen ihrer Bürgerinnen und Bürger erhalten will, muss sie auf das gemeinsame Heimatempfinden bauen und die Wurzeln der Vergangenheit mit dem Gestaltungswillen der Zukunft verbinden.
Daher habe ich im Bundesinnenministerium eine Heimatabteilung eingerichtet, die inzwischen voll arbeitsfähig ist. Sie befasst sich zum einen mit der Verbesserung des gesellschaftlichen Zusammenhalts, der Lebensverhältnisse und der Identifikation mit unserem Land. Sie geht damit auf das Bedürfnis nach Gemeinschaft udn Sicherheit ein. Zum anderen zielt die Arbeit der Abteilung darauf, den infrastrukturellen Reformstau zu lösen.
Meine Heimatpolitik richtet sich an alle in Deutschland lebenden Menschen, auch an die anderer Herkunftskulturen und -regionen. Wer Deutschland als seine Heimat betrachtet und sich mit unseren Traditionen, Denk- und Lebensweisen identifiziert, integriert sich meist leicht.
Eine erfolgreiche Heimatpolitik muss aus meiner Sicht vor allem drei Voraussetzungen erfüllen: Sie muss erstens gesellschaftliche Veränderungen und Probleme offen benennen und sich mit ihnen auseinandersetzen. Sie muss zweitens tragfähige Antworten auf die Suche nach Identität und Zugehörigkeiten geben und die Bürger auch emotional mitnehmen. Und sie braucht drittens den Staat als Impulsgeber. Daher hat die Bundesregierung die Initiative ergriffen und die Gründung der Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" beschlossen. Diese Kommission wird das Herzstück meiner Heimatpolitik sein. Damit die Menschen in Deutschland dort gut leben können, wo sie gerne leben wollen, müssen wir umfassend ansetzen. Sie konstituiert sich an diesem Mittsoch im Besein der Bundeskanzlerin in Berlin. Die Kommission umfasst das gesamte Bundeskabinett, 16 Ministerpräsidentinnen- und präsidenten sowie Vertreter der drei kommunalen Spitzenverbände. Ds ist einzigartig in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und trägt der Bedeutung der Thematik Rechnung.
Wenn sich über 30 Spitzenpolitiker der deutschen Bundes-, Landes- und Kommunalpolitik gemeinsam an einen Tisch setzen, zeigt dies im Übrigen auch, wie groß die Herausforderung auch 69 Jahre Gründung der Bundesrepublik Deutschland udn 28 Jahre nach der Wiedervereinigung ist. Wir haben die Aufgabe, die Infrastruktur unseres Landes - in den Städten und im ländlichen Raum - auf die Anforderungen der Zukunft auszurichten. Dabei haben wir nicht viel Zeit, denn das Tempo der globalisierungsbedingten Veränderungen zwingt uns, beide Aufgaben schnell zu meistern.
Die Kommission "Gleichwertige Lebensverhältnisse" wird nach Wegen suchen, sowohl die strukturellen Lebensbedingungen als auch das tatsächliche Wohlbefinden der Menschen vor Ort zu u verbessern. Ds bedeutet insbesondere, den ländlichen Raum zu stärken. Es heißt aber auch, die Lebensqualität in den Städten und Metropolregion zu erhöhen. Dies kann nur gelingen, wenn wir das Land neu vermessen und einen tragfähigen Maßstab für den Begriff der "gleichwertigen Lebensverhältnisse" definieren. Richtschnur sollte dabei eine echte Chance für jeden Einzelnen auf Wohlstand, Zugang zu Bildung, Wohnen, Arbeit, Sport und Infrastruktur sein - egal, ob er in Gelsenkirchen, München, Prenzlau oder Hamburg wohnt.
Wie anspruchsvoll dieses Ziel ist, lässt sich unschwer an der Bandbreite der zubeantwortenden Fragen erkennen. Sie reicht von der Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrs und der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum bis hin zum Mobilfunkausbau und zur Bewältigung kommunaler Altschulden.
Daher setzt die Kommission zur fachlichen Arbeit sechs Arbeitsgruppen ein. Das gesamte Bundeskabinett, alle Bundesländer und Kommunen finden sich in den Arbeitsgruppen wieder. Einige Arbeitsgruppen halten ihre Auftaktsitzung am Tag der Eröffnungssitzung der Kommission. Das finde ich gut, weil es die Dringlichkeit der Aufgabe deutlich macht. Die Arbeitsgruppen der Kommission werden bis Mai 2019 Handlungsempfehlungen vorlegen. Ein Bericht der Kommission mit konkreten Vorschlägen soll im Juli 2019 veröffentlicht werden. Ich bin sehr gespannt auf die Ergebnisse dieses Arbeitsprozesses.
Ich bin zuversichtlich, dass es uns gemeinsam gelingen wird, unsere Städte, Kreise und Gemeinden attraktiver zu machen, die Lebensqualität zu sichern und die unterschiedlichen Bedürfnisse zu erfüllen. Damit unsere Heimat liebens- und lebenswert bleibt.