Reden wir über Religion

Typ: Namensartikel , Datum: 23.08.2018

Ein Namensartikel von Horst Seehofer, Bundesminister des Innern, für Bau und Heimat

Die Welt

Wie ist es in unserem Land um das Verhältnis zwischen Religion und Staat bestellt? Welche Bedeutung messen wir der Religion in unserem Gemeinwesen zu? Und wie gestalten wir das Zusammenleben in einer religiös und weltanschaulich pluraler gewordenen Gesellschaft? Dies sind ganz grundlegende Fragen, zu denen ich den Dialog mit allen in Deutschland relevanten religiösen Gemeinschaften suchen werde.

Bedeutung von Religion in der Gesellschaft

Noch vor Jahren schien die Rolle von Religion in unserer Gesellschaft geklärt: Irgendwie am Rande, weitgehend nur noch als Privatsache. Oft genug in Abgrenzung des Einzelnen zur etablierten Organisation der Kirchen. Der mit stetig sinkenden Mitgliederzahlen einhergehende Bedeutungsverlust der organisierten Kirchen und ein zunehmendes Auseinanderfallen von reiner Mitgliedschaft und gelebter Glaubenspraxis auch innerhalb der Kirchen sind jedenfalls für die alte Bundesrepublik ab Anfang der 1970er Jahre signifikant. In der DDR konnten die Kirchen dieser Entwicklung noch etwas entgegensetzen. Nicht zuletzt die Diskriminierung durch den Staat stärkte eher den Zusammenhalt der konfessionell gebundenen Menschen. Es gehörte ja Standhaftigkeit und Zivilcourage dazu, angefangen bei der Entscheidung zwischen Jugendweihe und Konfirmation oder Kommunion und Firmung bis hin zur Bespitzelung und Diskriminierung im Alltag. Wer gehofft hatte, dass der "demokratische Aufbruch" mit dem Ende der DDR auch zu einer weiteren Belebung der Kirchengemeinden in Ostdeutschland führen würde, sah sich getäuscht. Im Gegenteil, so mein Eindruck, vollzog sich ebenso wie schon im Westen auch hier ein fortschreitender Rückzug ins Private.

Seit Jahren geht die Zahl der Mitglieder sowohl in der römisch-katholischen als auch der evangelischen Kirche kontinuierlich zurück. Der Anteil der Konfessionslosen an der Gesamtbevölkerung ist nicht nur mit der Wiedervereinigung sprunghaft angestiegen, sondern wächst seither auch stetig weiter. Mehr als ein Drittel der Bevölkerung ist nicht – oder nicht mehr – Mitglied einer Kirche oder anderen Religionsgemeinschaft. Ähnliche Befunde gibt es in Österreich und der Schweiz. Hat also Religion keine oder nur noch geringe Bedeutung in der Gesellschaft? Die Antwort ist – trotz der Statistik – ein klares Nein.

Die Leidenschaftlichkeit der jüngsten Diskussion um religiöse Symbole hat mich daher nicht überrascht, allenfalls einzelne Beiträge hierzu. Um Kopftuch, Kippa und Kreuz wurde – und wird immer noch – mal im Kontext von Schule und Gerichtssaal gestritten, mal ganz allgemein ihre Sichtbarkeit im öffentlichen Raum grundsätzlich in Frage gestellt oder verteidigt. Diese Diskussion hat erneut den Blick auf das Verhältnis zwischen Staat und Religion sowie die Rolle von Religion in unserer Gesellschaft gelenkt. Ich bin ungeachtet der teils recht befremdlichen Töne froh darüber, dass wir uns öffentlich mit diesem Thema befassen und so dessen gesellschaftliche Bedeutung unterstreichen.

Wenn wir die Rolle von Religion in unserer Gesellschaft betrachten, wäre es aber ein Fehler, dies nur auf die Mitgliedersituation der Kirchen oder den Umgang mit dem Islam zu verengen. Nicht zuletzt durch eine fortschreitende Globalisierung erleben wir in nahezu allen Bereichen unserer Gesellschaft rasante Veränderungen. Diese Veränderungen mag man je nach Standpunkt begrüßen oder bedauern, als Ausdruck von größerer individueller Freiheit ansehen oder den Verlust an stützender Ordnung beklagen. Diese Veränderungen zu ignorieren oder sich von ihnen nur treiben zu lassen, ist gewiss verlockend, weil es den geringsten Widerstand erzeugt. Das verbreitete Gefühl von Ohnmacht und Verlust von Steuerungsmöglichkeiten führt aber gerade bei vielen Menschen zu diffusen Ängsten vor diesen Veränderungen und zur verständlichen Sehnsucht nach Orientierung und klarer Haltung. Möglicherweise finden sich hier sogar mehr Übereinstimmungen zwischen Gläubigen verschiedener Religionen und auch denjenigen, die mit Argwohn auf die Ausübung von Religion blicken, als ihnen bewusst ist. Leider verstärkt diese Gemeinsamkeit in den individuellen Sorgen nicht das Gefühl von Zusammengehörigkeit und Solidarität innerhalb der Gesellschaft, sondern verführt eher zur Abgrenzung und sogar Ausgrenzung.

Neue Herausforderungen

Wie müssen wir mit der geschilderten Situation umgehen? Ich plädiere hier für eine Besinnung auf Erfahrungen aus der christlichen Soziallehre, die mich in meiner Jugend für meinen Lebensweg geprägt hat, und die die Notwendigkeit eines staatlichen Ordnungsrahmens anerkennt, dabei aber von den Prinzipien des Gemeinwohls, der Solidarität und der Subsidiarität geleitet ist. Diese Prinzipien sind in der päpstlichen Enzyklika Quadragesimo anno von 1931 klassisch beschrieben ("Wie dasjenige, was der Einzelmensch als eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen; jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen."). Der Staat soll diesen Ordnungsrahmen daher nur ausfüllen, soweit es der Einzelne mit eigenen Kräften und kleinere Organisationsformen wie etwa Familien, Vereine oder auch die Kommunen nicht selbst leisten können. Die Kirchen und andere Religionsgemeinschaften haben hier eine wichtige Funktion und nehmen schon nach ihrem Selbstverständnis vielfältige soziale und caritative Aufgaben wahr. Der Staat muss aber seinerseits die bei Beachtung des Subsidiaritätsprinzips allein ihm zukommenden Aufgaben auch tatsächlich wahrnehmen, indem er insbesondere ein funktionierendes Rechtssystem bereitstellt und das staatliche Gewaltmonopol konsequent ausübt.

Und der Staat muss dem Recht Geltung verschaffen: Das Bundesverfassungsgericht hat in einer Entscheidung zur Rücknahme einer erschlichenen Einbürgerung 2006 einen bemerkenswerten Satz gesprochen: "Eine Rechtsordnung, die sich ernst nimmt, darf nicht Prämien auf die Missachtung ihrer selbst setzen. Sie schafft sonst Anreize zur Rechtsverletzung, diskriminiert rechtstreues Verhalten und untergräbt damit die Voraussetzungen ihrer eigenen Wirksamkeit." (BVerfGE 116, 24 [49]).

Der somit gewissermaßen arbeitsteilig von Staat und Gesellschaft zu setzende Ordnungsrahmen muss Solidarität mit denjenigen üben, deren Kräfte trotz eigener Anstrengung nicht ausreichen, in angemessener Weise am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Er ist zugleich dem Gemeinwohl verpflichtet, das mehr ist als die Summe der einzelnen Interessen. Daraus ergibt sich sowohl eine sittliche Verpflichtung des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft, als auch der Gesellschaft, sich so zu organisieren, dass dem Einzelnen volle Entfaltungsmöglichkeit gegeben sein muss. Die wechselseitige Bezogenheit von Freiheit und Verantwortung für sich selbst und Verantwortung für die Mitmenschen, also Individualismus und Sozialbezug, umschreibt letztlich das christliche Welt- und Menschenbild, dem auch ich mich verpflichtet fühle.

Zu meinem Bedauern werden diese Grundsätze der christlichen Soziallehre in der Politik und der öffentlichen Auseinandersetzung um den richtigen Weg kaum noch ernsthaft berücksichtigt. Zuweilen werden sie mit einer selektiven Hervorhebung einzelner Elemente sogar in ihr Gegenteil verkehrt. Dies gilt besonders auch für den Widerstreit ethischer Bewertungen im Rahmen der Betrachtung des Gemeinwohls. Trotz der hellsichtigen Unterscheidung Max Webers in seinem klassischen Vortrag "Politik als Beruf" aus dem Jahr 1919 zwischen einer Gesinnungs- und Verantwortungsethik ist dies leider immer noch ein Quell für unerfreuliche Auseinandersetzungen, in denen dem jeweils anderen ein ethisch verwerfliches Handeln vorgeworfen wird. Dies habe ich schon in den 1980er Jahren im Zusammenhang mit der NATO-Nachrüstungs­debatte erlebt. Dabei gehört jedenfalls für mich der Blick auch auf die mittel- und langfristigen Folgen für die Gesamtgesellschaft und das staatliche Gemeinwesen untrennbar zu einer politischen Verantwortung und der Verpflichtung auf das Prinzip des Gemeinwohls. Ich möchte dies hier nicht am Beispiel der Flüchtlingsdebatte durchdeklinieren, erlaube mir aber doch den Hinweis, dass wir hier einen bemerkenswerten Widerstreit zwischen Gesinnungs- und Verantwortungsethik sehen. Der Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, Bischof Heinrich Bedford-Strohm, hat in diesem Zusammenhang ganz richtig darauf hingewiesen: "Der Staat ist nicht mit dem Samariter als einzelnem Helfer zu vergleichen, sondern mit der Herberge. Gerade das ist die Pointe der Auslegung. Dennoch: Die Hilfe muss nicht immer in Deutschland erfolgen. Entscheidend ist, dass Menschen in Not geholfen wird und wir uns dafür mit verantwortlich fühlen. Der Vorrang liegt ohnehin bei der Bekämpfung der Fluchtursachen" (Interview in der FAZ vom 21.12.2015). Auch der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Kardinal Reinhard Marx, hat es ganz ähnlich ausgedrückt: "Freilich weiß auch ich, dass wir nicht jeden der 60 Millionen Flüchtlinge auf der Welt aufnehmen können. Wir dürfen die Sozialsysteme und die Integrationsfähigkeit unserer Gesellschaft nicht überfordern." (Gastbeitrag in der SZ vom 17.12.2015). Dies kann ich nur unterstreichen.

Nur wer sich selbst nicht dauerhaft überfordert, kann anderen wirksam helfen.

Die Zuwanderung von Menschen aus unterschiedlichen Herkunftsstaaten, mit unterschiedlicher religiöser und kultureller Prägung hat zu erheblichen Herausforderungen geführt, die auch das Verhältnis zwischen Religion und Staat betreffen.

In Deutschland haben wir beispielsweise die Sprengkraft eines religiösen Fanatismus für unser gesellschaftliches Miteinander lange für überholt gehalten. Aber schon beim Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien gewannen neben ethnischen auch religiös begründete kulturelle Unterschiede wieder an Bedeutung.

Zugleich brauchen wir nur einen Blick in unsere eigene Geschichte zu werfen, um zu sehen, dass den Religionen auch innewohnende Tendenzen zu Unbarmherzigkeit und Intoleranz sich Bahn brechen können. Wir Europäer haben in vielen Jahrhunderten schmerzvoll gelernt, dass ein friedliches Zusammenleben schwierig ist, wenn mit dem religiösen ein politischer Wahrheitsanspruch einhergeht. Deshalb achtet unser Staat die spirituelle Autorität der Religionen, behauptet aber zugleich seine Autorität zur Regelung des Zusammenlebens. Das Grundgesetz gewährt die Freiheit der Glaubenden und grenzt sie zugleich auch ein. Die Religionsfreiheit entbindet niemanden von der Achtung der Verfassung.

Ich bin mir bewusst, dass es auch im Christentum Glaubens- und Gewissenskonflikte gibt, die manchmal schwer zu lösen sind.

Dabei wird der vielzitierte Satz aus der Apostelgeschichte "Man muss Gott mehr gehorchen als den Menschen" (Apg. 5,29) gelegentlich leider auch von Christen aus dem (tatsächlich ja rein
theologischen) Zusammenhang gerissen und in zuweilen anmaßender Überhebung eigener Glaubensüberzeugungen gegenüber der staatlichen Ordnung angeführt.

Dass eine staatliche Ordnung und selbst staatliches Recht tatsächlich Unrecht sein kann und gerechtfertigten Widerstand erlaubt, haben wir in Deutschland in zwei Diktaturen schmerzlich erlebt. Wir sprechen daher in der Präambel des Grundgesetzes bewusst davon, dass sich das deutsche Volk in der Verantwortung vor Gott und den Menschen sich diese Verfassung gegeben hat, und in Artikel 1 des Grundgesetzes, dass die Würde des Menschen unantastbar und sie zu achten und zu schützen Verpflichtung aller staatlichen Gewalt ist. Damit bekennt sich das Grundgesetz auch in Artikel 20 mit der Bindung der Staatsgewalt an Gesetz und Recht zur Existenz überpositiver Werte, die der staatlichen Disposition entzogen sind. Dies bedeutet allerdings nicht, dass sich einzelne unter Berufung auf ihr Gewissen leichtfertig von unserer Rechtsordnung distanzieren können.

Daher gehen wir aber davon aus, dass die Bindung an das auf der Grundlage dieser Verfassung geschaffene Recht und auch die von ihr vorausgesetzten Grundlagen des friedlichen Zusammenlebens selbstverständlich von allen Mitgliedern dieser Gesellschaft zu akzeptieren sind. Wer dies nicht akzeptiert und auf eine Beseitigung dieser freiheitlichen demokratischen Rechts- und Gesellschaftsordnung hinwirkt - gleich aus welchen Motiven heraus -, dessen Handeln muss der Rechtsstaat konsequent und mit der gebotenen Härte Einhalt gebieten.

Andererseits gilt aber auch, dass Religionsgemeinschaften selbstverständlich aufgrund ihres Öffentlichkeitsanspruchs das Recht haben, sich in ethischen und gesellschaftspolitischen Fragen zu äußern und sich auch entsprechend zu engagieren.

Dies gilt für alle Religionsgemeinschaften gleichermaßen und nach den verfassungsrechtlich verankerten Grundsätzen von Neutralität und Parität selbstverständlich nicht nur für die christlichen Kirchen. Auch die anderen Religionsgemeinschaften müssen entsprechend ihrer Größe und Zahl der von ihnen vertretenen Gläubigen von der Politik gehört werden und die von unserer Rechtsordnung angebotenen Kooperationsformen mit dem Staat nutzen dürfen.

Das Grundgesetz spricht hier übrigens bewusst ganz allgemein von Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften und bezieht sich ausdrücklich nicht nur auf die zum Zeitpunkt der Entstehung der Weimarer Verfassung im Jahr 1919 bereits bestehenden Gemeinschaften, sondern ist ausdrücklich entwicklungsoffen.

Religiös neutral bedeutet nicht werteneutral

Die nicht zuletzt auf die Reformation zurückgehende wechselseitige Begrenzung staatlicher und religiöser Autorität hat in den vergangenen Jahrhunderten weltanschaulich neutrale staatliche Institutionen geschaffen. Der Staat ist in den Worten des Bundesverfassungsgerichts die Heimstatt aller Bürger. Und gerade diese Neutralität ist heute unabdingbar für den gesellschaftlichen Zusammenhalt in unserer religiös und weltanschaulich pluralen Welt. Sie schafft einen Rahmen, in dem Menschen verschiedenen Glaubens oder auch ohne religiöse Bindungen einträchtig miteinander leben können, ohne religiöse Fremdbestimmung fürchten zu müssen. Das ist gerade dann wichtig, wenn eine Gesellschaft durch Zuwanderung vielfältiger wird.

Religiös und weltanschaulich neutral bedeutet für uns in Deutschland aber nicht laizistisch oder gar religionslos. Das Bundesverfassungsgericht spricht davon, dass unter religiös-weltanschaulicher Neutralität nicht eine distanzierende, sondern eine die Glaubensfreiheit für alle Bekenntnisse gleichermaßen fördernde Haltung zu verstehen ist. Vor allem aber bedeutet religiös neutral nicht werteneutral.

Das bekannte Diktum des ehemaligen Bundesverfassungsrichters Ernst-Wolfgang Böckenförde, wonach der freiheitliche, säkulare Staat von Voraussetzungen lebt, die er selbst nicht garantieren kann, verweist auf diese prägende Kraft solcher Wertvorstellungen für ein demokratisch verfasstes Gemeinwesen. Selbst der Philosoph Jürgen Habermas, der sich wie Max Weber ausdrücklich als "religiös unmusikalisch" bezeichnet und insofern einer einseitigen Parteinahme unverdächtig ist, sieht uns gar in einem "postsäkularen Zeitalter". In seiner Dankrede zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels im Oktober 2001 – also kurz nach den Anschlägen des 11. September – forderte er, dass sich der säkulare Staat den Quellen seiner Sinnstiftung nicht entäußern dürfe. Und zu diesen Quellen zählt Habermas auch die zweifelsfrei religiöse Herkunft seiner moralischen Grundlagen. Gerade wenn es um existenzielle Fragen gehe, müssten auch diejenigen gehört werden, die sich davon in ihren Glaubensüberzeugungen verletzt fühlen. Freilich sei umgekehrt auch von den Gläubigen - gleich welcher Religion - zu erwarten, dass sie sich auf die Begegnung mit anderen Konfessionen und anderen Religionen sowie auf die Autorität von Wissenschaften einstellen und sich schließlich auch auf die Prämissen des Verfassungsstaates einlassen.

Diese  Aussagen bringen aus meiner Sicht treffend zum Ausdruck, dass der weltanschaulich neutrale Staat den freiheitlichen Rahmen für eine gerne auch leidenschaftliche, aber eben gewaltfreie Auseinandersetzung um eine angemessene Lösung derartiger Fragen schafft. Und dass er dies gerade in einer immer pluraler werdenden Gesellschaft auch zu gewährleisten hat. Damit der weltanschaulich neutrale Staat diesen freien und friedlichen Diskurs auch tatsächlich gewährleisten kann, bedarf es aber auch auf Seiten der Gesellschaft der Bereitschaft, sich auf diesen Diskurs einzulassen und nicht den jeweiligen Echoräumen zu verharren.

Was ist also zu tun? Der ehemalige Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio sieht in erster Linie die Mehrheitsgesellschaft in der Pflicht: "Eine Gesellschaft, die ihre eigenen kulturellen und religiösen Wurzeln nicht pflegt, die ihr Land und ihre Identität nicht bejaht, eine Gesellschaft, die nicht mit eigenen Kindern optimistisch und pragmatisch nach vorne schaut, eine solche Gesellschaft reagiert auf Veränderungen eher ängstlich. Vor allem wird sie als Integrationsziel für die Hinzukommenden auf Dauer nicht anziehend, nicht ansteckend wirken." (FAZ Gastbeitrag vom 14.09.2015). Dies deckt sich mit den Erfahrungen des Schriftstellers Navid Kermani, der schon im Jahr 2009 und damit lange Zeit vor den weitaus größeren Zuwanderungszahlen der Jahre
2015 und 2016 schlussfolgerte: "Einwanderung solchen Ausmaßes verläuft niemals glatt, sie ruft immer auch Spannungen hervor, Ängste, die berechtigt, Konflikte, die real sind… Es wäre verhängnisvoll, würde man solche und noch weit größere Konflikte, die das Zusammenleben unterschiedlicher Kulturen in unseren Städten mit sich bringt, nicht offen aussprechen. … Aus Furcht vor den Reaktionen muslimischer Eltern nicht mehr Advent zu feiern, wie es in manchen Kindergärten oder Schulen geschieht, ist mit Sicherheit das falsche Signal. Es geht nicht darum, sich selbst zu verleugnen, sondern den anderen zu achten. Wer sich selbst nicht respektiert, kann keinen Respekt erwarten." (Navid Kermani, Wer ist Wir?).

Werden wir uns also unserer kulturellen und religiösen Wurzeln bewusst und vertreten diese mit gesundem Selbstbewusstsein, zugleich aber auch mit Respekt vor den anderen religiösen und weltanschaulichen Auffassungen.