Asyl: "Wir haben längst noch nicht alles im Griff"

Typ: Interview , Datum: 21.07.2018

Ein Interview mit Bundesinnenminister Horst Seehofer zum Thema Asyl

Münchner Merkur

Das Interview führte: Mike Schier

Herr Seehofer, Ihr Parteifreund und Nachfolger Markus Söder sagt, die schlechten Umfragewerte seien "überwiegend geprägt von Berliner Entscheidungen". Haben Sie sich schon bei ihm bedankt?

Ich glaube nicht, dass er damit meine Entscheidungen zur Asylwende gemeint hat.

Sie fühlen sich nicht angesprochen?

Nein.

Denken Sie sich leise: Hey, 38 Prozent wie in der letzten Umfrage hätte es ohne Stabübergabe nicht gegeben?

Nein.

Ist Markus Söder der perfekte Kandidat?

(lacht kurz auf) Wir haben uns für die Aufstellung mit Markus Söder als Ministerpräsident und mir als Parteivorsitzenden und Bundesinnenminister entschieden – und dazu stehe ich.

Herr Söder sagt auch, die CSU müssten mehr über Ihre Erfolge in der Asylpolitik reden.

Dann mal los.

"Wir haben noch nicht alles Menschenmögliche für die Sicherheit im Land getan"

Das wird wohl ein kurzes Interview. Was Söder wohl meinte: Angela Merkel hat 62 Punkte Ihres Masterplans Asyl mitgetragen.

. . . 62 einhalb.

Na gut. Aber Sie haben es dann geschafft, den Streit um den letzten halben Punkt völlig eskalieren zu lassen.

Ich habe diesen halben Punkt nicht zum Mittelpunkt der Auseinandersetzung gemacht. Er wurde dazu gemacht. Es ging um die Zurückweisung von Menschen, die eine Einreisesperre haben – was ja eigentlich selbstverständlich ist und jetzt seit vier Wochen umgesetzt wird. Und es geht um Menschen, die an der deutsch-österreichischen Grenze erscheinen und von denen bekannt ist, dass sie in einem anderen europäischen Land einen Asylantrag gestellt haben. Bei diesem Punkt hat die Kanzlerin darauf bestanden, dass wir Abkommen mit anderen Ländern brauchen. Und daran arbeiten wir jetzt.

Die SPD sagt, das schaffen Sie nie.

Deshalb steht sie in Umfragen in Bayern bei 12 bis 13 Prozent und im Bund bei 17 bis 18 Prozent.

Aber warum haben Sie dann nicht die anderen 62 Punkte einfach vorgestellt und als Erfolg verkauft?

Wenn Sie in Berlin diesen Punkt der Kontrolle an der österreichischen Grenze, der für Bayern so wichtig ist, ausklammern, hätte man das als Einlenken verstanden. Das hätten wir dann nie mehr durchbekommen.

Stattdessen sind nun eben die anderen 62 Punkte unter den Tisch gefallen.

Seien Sie unbesorgt: Wir bringen das in den nächsten Wochen ins Bewusstsein der Menschen. Zum Beispiel ist es ein Teil des Masterplans, dass wir Algerien, Tunesien, Marokko und Georgien als sichere Herkunftsländer ausweisen. Das hat diese Woche das Kabinett beschlossen.

Haben Sie vom grünen Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann schon die Zusage, dass Baden-Württemberg im Bundesrat zustimmt?

Der Kollege Kretschmann hat zugestimmt, als die Westbalkanländer zu sicheren Herkunftsstaaten erklärt worden sind. Ich bin da auch jetzt zuversichtlich.

Verleger Dirk Ippen begrüßt den Bundesinnenminister im Eingangsbereich des Pressehauses in München:

Eine Ihrer Kernsorgen betrifft die Aushöhlung des Rechtsstaats. Man kann nicht sagen, dass es in dieser Hinsicht besonders gut liefe. Der Fall des Leibwächters von Osama bin Laden, Samir A., zum Beispiel: Warum haben die Behörden das Urteil des Verwaltungsgerichts vor der Abschiebung nicht mehr abwarten wollen?

Der Bund hilft bei Abschiebungen, aber die Entscheidung darüber treffen die Behörden der Länder. So war es auch in diesem Fall. Der Mann war ausreisepflichtig. Zwei Tage vorher hat ein Richter eine Klage gegen die sogenannte Abschiebe-Androhung abgewiesen. Daraufhin hat NRW die Abschiebung am 13. Juli in aller Früh durchgeführt. Zu diesem Zeitpunkt war kein Gerichtsbeschluss bekannt. Der wurde erst nach 8 Uhr zugestellt, die Maschine war aber schon nach 6 Uhr gestartet. Übrigens: Der Beschluss des Gerichts wurde schon am Tag vorher gefasst.

Er wurde also nicht rechtzeitig zugestellt.

Das müssen andere beurteilen.

Aber Sie unterstützen Nordrhein-Westfalen in seinem Vorgehen.

Absolut. Den Rest klären jetzt die Gerichte. Aber ich denke, wir sollten in Deutschland einen gesellschaftlichen Konsens haben, dass Gefährder und verurteilte Straftäter außer Landes gebracht werden müssen. Ich kann nicht verstehen, wenn so etwas kritisiert wird – und es ist vor allem nicht „unchristlich“.

Sie spielen auf Kritik des Münchner Kardinals Reinhard Marx an. Er hatte ihre Äußerung, dass an Ihrem 69. Geburtstag 69 Afghanen abgeschoben wurden als unangemessen eingestuft und im weiteren Interview von Unchristlichkeit gesprochen.

Ja. Ich stelle Kardinal Marx die Gegenfrage: Ist es unchristlich, Gefährder und Straftäter außer Landes zu bringen?

An dem einen Satz in dieser langen Antwort stören sich ja viele. Bereuen Sie ihn?

Diese Äußerung ist hemmungslos missbraucht worden. Auch mir passieren Fehler, aber dann werden sie ausgeräumt. Neulich habe ich zum Beispiel in einer Fernsehsendung den Begriff „Asyltourismus“ verwendet und habe ihn noch in der gleichen Sendung zurückgenommen.

"Ich werde eine Initiative ergreifen, mit beiden Kirchen ins Gespräch zu kommen"

Und doch zeigt die Äußerung des Kardinals wie schwer belastet, wenn nicht gar zerrüttet das Verhältnis der Christlich Sozialen Union zu den Kirchen ist.

Zwischen politischen Parteien ist es üblich, dass man die Äußerungen der einen Seite auch öffentlich beantwortet. Wenn es aber um Institutionen wie die Amtskirchen geht, könnte man ja auch mal direkt miteinander reden. Das wäre meine Bitte. Ich werde eine Initiative ergreifen, mit beiden Kirchen ins Gespräch zu kommen, um ihnen unsere Beweggründe zu erläutern. Es wird immer ein Gegensatz zwischen Humanität und Sicherheit hergestellt: Aber Sie werden auf Dauer keine Humanität erhalten und sichern, wenn Sie keine Ordnung im Land haben und die einheimische Bevölkerung nicht schützen.

Wie weit sind wir bei der Ordnung im Land?

Wir haben längst noch nicht alles im Griff. Das sage ich als Bundesinnenminister. Leider. Deshalb kämpfe ich ja so für Regeln. Wir werden nie absolute Sicherheit garantieren können, aber wir haben auch noch nicht alles Menschenmögliche getan. Vorher werde ich keine Ruhe geben.

Zählt dazu auch der Fall des jungen Afghanen, der illegalerweise abgeschoben wurde und jetzt wieder zurückgeholt werden muss? Da langen sich die Leute doch an den Kopf!

Zu recht. Aber die Leute langen sich genauso an den Kopf, wenn jemand mit zwölf Identitäten seine Sozialhilfe abholt – unter jeweils anderem Namen. Oder wenn schlimme Kapitalverbrechen passieren. Der Fehler des Bamf bei dieser Abschiebung, offenbar eine fehlende Adressenkorrektur, die sich fortsetzte, darf nicht passieren. Er zeigt, wie richtig es war und ist, dieses Amt mit einer neuen Spitze zu reformieren. Wir müssen unsere Asylverfahren dringend sicherer machen. Es geht nicht an, dass wir nach wie vor nicht wissen, wer alles im Land ist.

Die Wahrnehmung der Leute ist: Wir schaffen es nicht, Gefährder loszuwerden, schieben aber jene ab, die zu ehrlich sind, sich dagegen mit allen Tricks zu wehren.

Der Eindruck ist leider richtig. Und das muss sich ändern. Deshalb brauchen wir bei Gefährdern und Straftätern einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass sie unverzüglich außer Landes gebracht werden. Wenn bei jedem dieser Fälle alles getan wird, um eine Rückführung zu unterbinden, dann belastet das die Handlungsfähigkeit des Rechtsstaates schwer. Aber natürlich muss dann im Einzelfall immer alles rechtlich einwandfrei sein. Und leider sind wir immer noch nicht so weit.

Wo hakt es?

Wir brauchen mehr Polizeibeamte, eine bessere Ausrüstung, mehr europäische Zusammenarbeit, vor allem den Informationsaustausch – übrigens keineswegs nur beim Terrorismus. Und wir brauchen auch sichere Verfahren beim Bamf.

Aus einigen Ländern kommt der Vorschlag, dass der Bund die generelle Zuständigkeit für Gefährder übernimmt. Stehen Sie bereit?

Ich habe Sympathien dafür. Gerade bei den Gefährdern macht eine Zuständigkeit des Bundes Sinn, weil es dort auch auf die internationalen Beziehungen zu den Herkunftsstaaten ankommt.

Generell ist es eine der wichtigsten Aufgaben der nächsten Tage, internationale Vereinbarungen zur Rücknahme von Asylbewerbern zu schließen. Wie ist der Sachstand?

Ermutigend. Unsere Leute sind heute in Paris. Wir befinden uns auch in guten Gesprächen mit Athen.

Und Italien?

Die nächsten Gespräche gibt es am Montag. Innenminister Matteo Salvini hat mir angeboten, dass wir uns noch einmal in Mailand treffen, wahrscheinlich in der kommenden Woche. Italien möchte, dass wir als Gegenleistung für die Rücknahme bei der Seenotrettung helfen. Da müssen wir die Konditionen besprechen.

Was meinen Sie?

Man muss immer aufpassen, dass man keine sogenannten Pull-Effekte erzeugt. Es darf in Afrika nicht der Eindruck entstehen: Wenn ich die libysche Küste erreiche, werde ich nach Italien transportiert. Die EU-Kommission muss jetzt einen Vorschlag erarbeiten, ob und wie man die geretteten Menschen wieder nach Nordafrika zurückbringen kann. Das geht aber natürlich nur, wenn man mit den entsprechenden Ländern Vereinbarungen schließt. Das wäre die perfekte Lösung.

In welchem Land sehen Sie da die besten Voraussetzungen?

Es wird nicht leicht, eines zu finden. Jetzt muss der zuständige Kommissar einen Vorschlag machen.

"Sie werden von mir kein kritisches Wort über Seenotretter hören"

Die SPD will den Seenotrettern einen Preis verleihen. Die Italiener behaupten dagegen, sie leisten Beihilfe zur Schlepperei. Wer hat recht?

Sie werden von mir kein kritisches Wort über Seenotretter hören. Die Politik trägt doch letztlich die Verantwortung dafür, dass überhaupt Menschen gerettet werden müssen. Die Weltgemeinschaft und die EU haben zu wenig dafür getan, das Problem in Afrika zu lösen. Es ist ein Verdienst der CSU, dass in die Debatte in den vergangenen Tagen endlich Bewegung gekommen ist. Das ist eine europäische Aufgabe!

Was machen Sie eigentlich, wenn Sie mit Griechenland und Italien keine Vereinbarung hinbekommen?

Damit beschäftige ich mich jetzt nicht. Ich gehe davon aus, dass wir das hinbekommen.

Sie hatten ja schon einmal eine klare Drohung in den Raum gestellt, dann trotzdem Asylsuchende an der Grenze abzuweisen.

Wir halten uns jetzt erst einmal an die Vereinbarung. All das, wofür mir vorgeworfen wurde, es sei psycho, ist heute gemeinsame Position der Koalition. Nur dass es nun Transitverfahren statt Transitzentren heißt. Wissen Sie: Man muss in der Politik für seine Überzeugungen kämpfen. Nur im Schlafwagen erreichen Sie in Berlin gar nichts.

Der Streit hat sich also gelohnt?

Das Ergebnis war schwer zu erreichen. Aber es ist uns gelungen, die Asylwende einzuleiten. Darauf kommt es an.

Lassen Sie uns über die CSU reden. Parteifreunde klagen, Sie schirmen sich ab. Ihr Vorgänger Erwin Huber sagt, vom Raumschiff aus sei die CSU nicht zu steuern. Schweben Sie in fernen Sphären?

Schöne Grüße an Erwin Huber! Sagen Sie ihm, er soll sich gut erholen im Sommer und dann ordentlich Wind machen im Wahlkampf.

"Ich könnte mich auch mit den großartigen Erfolgen des Parteivorsitzenden Erwin Huber beschäftigen"

Er ist mit seiner Kritik nicht allein . . .

Erwin Huber kann auch beim bösesten Willen nicht behaupten, dass das ein Alleingang von mir war. Ich glaube, dass kein Parteivorsitzender in Deutschland seine Partei so beteiligt wie ich. Alle Aspekte zur Grenzsicherung haben wir in fünf Punkten im CSU-Vorstand niedergeschrieben und jeden Punkt einzeln abstimmen lassen. Einstimmig! Das gleiche haben die Staatsregierung, die Landtagsfraktion und die CSU-Abgeordneten in Berlin beschlossen. Ich kenne kein Gremium, das ich noch hätte befragen können.

Was er meinte. . .

Übrigens könnte ich mich auch mit den großartigen Erfolgen des Parteivorsitzenden Erwin Huber im Jahr 2008 beschäftigen – das mache ich aber nicht.

Trotzdem: Es gab mehrere, die sich über Ihr Verhalten während der nächtlichen Vorstandssitzung geärgert haben, als Sie Bedenkenträger als „dumm“ abgekanzelt haben.

Gut dass Sie das fragen! Da wurden Fragen gestellt, die mir gar nicht in den Sinn kamen. Ich wollte weder die Fraktionsgemeinschaft mit der CDU kündigen noch aus der Regierung austreten und erst recht nicht die Bundeskanzlerin stürzen. Am Ende landen aber genau diese Beiträge in der Öffentlichkeit – und alle denken erst recht: Der Seehofer will Angela Merkel stürzen.

Sie sprechen von einer Kampagne gegen sich . . .

Ja, gerade der Satz mit den 69 Afghanen ist komplett aus dem Zusammenhang gerissen und gnadenlos zugespitzt worden. Und leider haben sich auch einige Parteifreunde vereinnahmen lassen. Aber das ist nur ein Teil: Ich stehe morgens auf und höre, ich hätte die Koalition aufgekündigt. Dann soll ich irgendeine Veranstaltung mit der Kanzlerin abgesagt haben, von der ich gar nichts wusste. So geht das gerade jeden Tag, pausenlos. Da kann man schon von einer Kampagne sprechen.

Renate Schmidt (SPD) hat Ihnen eine Mitschuld am Tod der Flüchtlinge im Mittelmeer zugewiesen. Wie sehr trifft Sie das?

Das ist natürlich unterirdisch. Manche Leute reden von Anstand und Stil, machen dann aber das Gegenteil davon. Bevor jemand einen Politiker für den Tod von Menschen verantwortlich macht, muss bei dem, der so etwas äußert, schon viel aus dem Gleichgewicht geraten sein. Ein Schriftsteller hat mich in die Nähe von Beate Zschäpe gerückt, einer verurteilten Mörderin. Ich werde als Täter bezeichnet, der vor Gericht gehört. Da fehlen einem die Worte.

Wenn Sie wieder mehr Nächstenliebe einfordern: Angela Merkel hatte diese Woche Geburtstag. Haben Sie Ihr etwas geschenkt?

Ich habe ihr vom Senior an die Jung-Seniorin sehr nette und warme Worte zukommen lassen . . .

. . . und ihr versprochen, im nächsten Jahr brav zu sein.

Nein. Dazu kennt sie mich schon zu lange. (lacht)